Memoiren 1945 - 1987
Aufenthalt hat, einzusteigen.»
«Und wann kommt der Zug an?» fragte ich entgeistert.
«In fünfzehn Minuten.»
«Das schaffe ich nie», rief ich aufgeregt.
«Du solltest es versuchen. Eine solche Chance bekommst du nie wieder, den Minister so ruhig sprechen zu können wie in einem Eisenbahnabteil.»
Ich riß die warmen Sachen aus dem Schrank und zog mich in hektischer Eile an. Beinahe hätte ich Ausweis und Geld vergessen. Dann rannte ich mit Otto, die Wege abkürzend, über die steilen, leicht verschneiten Wiesen hinunter. Von weitem sah ich den Zug schon auf dem Bahnhof stehen, und ich lief wie um mein Leben. Im letzten Augenblick sprang ich noch auf das Trittbrett des anfahrenden Zuges.
Auf was hatte ich mich da eingelassen? Erst langsam wurde mir meine unmögliche Situation bewußt. Mein Abteil war fast leer, nur ein älterer Mann, in seine Zeitung vertieft, saß mir gegenüber. Bei dem Schaffner, der die Fahrkarten kontrollierte, löste ich eine Karte bis Wien.
Am liebsten wäre ich schon an der nächsten Station wieder ausgestiegen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Minister in dem Zug finden sollte. Ich wußte doch nicht einmal, wie er aussah. Auch hatte ich noch nie mit ihm korrespondiert. Ich war nur informiert, daß die letzte Entscheidung über die Freigabe deutschen Eigentums in Österreich beim Finanzminister liege.
Was war geschehen, daß plötzlich von Vernichtung meines Filmmaterials gesprochen wurde? Trotz aller Schwierigkeiten und jahrelangen Verzögerungen war von einer so schrecklichen Möglichkeit noch nie die Rede gewesen. Im Gegenteil, Monsieur Langlois von der «Cinémathèque» hatte mir zweimal mitgeteilt, daß mein Filmmaterial abgeholt werden kann. In einem seiner letzten Briefe schrieb er, daß er nun schon seit Monaten verlangte, von den Hunderten von Schachteln mit dem Filmmaterial befreit zu werden, sie füllten ein ganzes Zimmer in seinem Blockhaus. «Alles liegt zum Verladen bereit», schrieb er, «es liegt nur an der österreichischen Gesandtschaft, die Sie drängen müssen, die Filme abzuholen.»
Zweifellos war Monsieur Langlois eine seriöse Persönlichkeit, ich mußte ihm glauben. Aber seine Worte standen im krassen Gegensatz zu dem, was offenbar geschah.
Nach zwei Stunden Fahrt, in denen ich mich langsam entkrampft hatte, begann ich meine Gedanken zu ordnen. Zuerst wollte ich mich in den Abteilen Erster Klasse umschauen. Soweit ich mich erinnern kann, gab es außer den Schlafwagenabteilen nur einen einzigen Waggon. Ich war unschlüssig, und mit Herzklopfen ging ich langsam die Abteile der Ersten Klasse entlang. Die meisten Fenster waren zugezogen. Ich gab mir einen Ruck und öffnete eine Tür: «Verzeihung, ist hier ein Dr. Kamitz?» Kopfschütteln. Im nächsten Abteil fühlte ich mich schon etwas freier, und dann ging es immer leichter — ich kam mir vor wie eine Postbotin, die ohne Hausnummer eine Depesche abgeben soll.
Nach dieser erfolglosen Suche konnte der Minister ja wohl nur in einem Schlafwagen sein, aber da wagte ich mich doch nicht hinein. Am Ende des Waggons stand der Schaffner, mit dem ich ein Gespräch anfing. Es dauerte nicht lange, bis er herausfand, wer ich war. Das erleichterte die Situation. Ich beschloß, wiederzukommen, wenn die Reisenden zum Frühstück in den Speisewagen gingen.
Einige Stunden später war ich wieder im Gang des Schlafwagenabteils, sah, daß einige Türen offenstanden und die Bettwäsche schon weggeräumt war. Da faßte ich mir ein Herz und fragte den Schaffner, ob Herr Minister Dr. Kamitz schon gefrühstückt habe. Überrascht sah er mich an. «Sie wissen?»
Ich nickte und erwiderte flüsternd: «Glauben Sie, der Minister gestattet mir, ein paar Worte mit ihm zu reden?»
«Er kennt Sie doch sicher», sagte der Schaffner, «soll ich ihn fragen?»
«Ach bitte», sagte ich, «es wäre zu nett von Ihnen.» Ich sah, wie er in die erste Tür des Wagens hineinging. Der entscheidende Augenblick war gekommen.
Dr. Kamitz begrüßte mich freundlich und unbefangen.
«Verzeihen Sie, bitte, Herr Minister, meinen Überfall.»
Er winkte ab und sagte lächelnd: «Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen — vom Film her kenne ich Sie schon lange. Übrigens», fuhr er fort, «mußte ich mich in letzter Zeit einige Male mit Ihren Angelegenheiten beschäftigen. Deshalb wollten Sie mich wohl auch sprechen?» Ich nickte.
«Leider ist Ihr Fall nicht ganz
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