Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Spinoza hindurchzuarbeiten. Manchmal führten sie mich sehr hoch ins Unendliche hinauf; ich sah dann die Erde wie einen Ameisenhaufen zu meinen Füßen liegen, und selbst die Literatur kam mir wie ein eitles Strohfeuer vor; manchmal erblickte ich in ihr nur ungeschickte Konstruktionen, die keinerlei Beziehung zur Wirklichkeit besaßen. Ich las Kant, und er überzeugte mich, dass niemand die Kehrseite der Karten jemals aufdecken würde. Seine Kritik erschien mir so treffend, ich hatte so viel Vergnügen daran, sie zu verstehen, dass in mir im Augenblick kein Platz für Traurigkeit blieb. Wenn Kant indessen daran scheiterte, mir das Weltall und mich selbst zu erklären, wusste ich nicht mehr, was man von der Philosophie noch erwarten sollte; ich interessierte mich nur mit Maßen für Lehren, denen ich im Voraus ablehnend gegenüberstand. Über den ontologischen Beweis bei Descartes verfasste ich eine Arbeit, die Mademoiselle Lambert nur mittelmäßig fand. Indessen hatte sie sich entschlossen, sich für mich zu interessieren, was mir schmeichelte. Während ihrer Vorlesungen über Logik unterhielt ich mich damit, sie genauer zu betrachten. Sie trug immer blaue, gesucht einfache Kleider; ich fand das kühle Feuer ihres Blicks ein wenig monoton, war aber dann und wann überrascht von einer Art des Lächelns, das jeweils ihre strenge Maske in ein Gesicht von Fleisch und Blut verwandelte. Es hieß, sie habe ihren Verlobten im Kriege verloren und aus Trauer darüber der Welt entsagt. Sie flößte auch jetzt noch Leidenschaften ein: Es wurde sogar an ihr gerügt, dass sie mit ihrem Einfluss Missbrauch treibe; manche Studentinnen schlossen sich aus Liebe zu ihr dem dritten Orden an, dem sie zusammen mit Madame Daniélou vorstand; hatte sie dann aber diese jungen Seelen angelockt, so entzog sie sich gleich darauf ihrer Verehrung. Mir machte das nichts aus. Meiner Meinung nach genügte es nicht, nur zu denken oder nur zu leben; wirkliche Achtung hatte ich allein für die Leute, die ‹ihr Leben dachten›; Mademoiselle Lambert aber ‹lebte› nicht. Sie hielt Vorlesungen ab und arbeitete an einer Doktorthese: Ich fand ein solches Dasein reichlich unfruchtbar. Dennoch hatte ich Vergnügen daran, in ihrem Arbeitszimmer zu sitzen, das blau wie ihre Kleider und ihre Augen war; immer stand auf ihrem Tisch in einer Kristallvase eine Teerose. Sie empfahl mir Bücher; sie lieh mir
La Tentation d’Occident
von einem jungen Unbekannten, der André Malraux hieß. Sie fragte mich nach mir selbst mit einer gewissen Intensität, aber doch nicht so, dass ich mich in mich selbst zurückzog. Sie ging leicht darüber hinweg, dass ich den Glauben verloren hatte.
Ich sprach zu ihr von vielen Dingen, auch von meinem Herzen: Meinte sie wohl, dass man zur Liebe und zum Glück ja sagen müsse? Sie blickte mich beinahe angstvoll an: «Glauben Sie, Simone, dass eine Frau außerhalb der Liebe und der Ehe Erfüllung finden kann?» Ohne allen Zweifel hatte auch sie ihre Probleme; dies aber war das einzige Mal, dass sie darauf anspielte; ihre Rolle bestand darin, mir bei der Lösung der meinen behilflich zu sein. Ich hörte ihr ohne große Überzeugung zu; trotz ihrer Diskretion konnte ich nicht vergessen, dass sie auf den Himmel gesetzt hatte; aber ich war ihr dankbar, dass sie sich mit so viel Eifer um mich sorgte, und ihr Vertrauen war tröstlich für mich.
Im Juli hatte ich mich in die ‹Équipes sociales› eingereiht. Die Leiterin der weiblichen Abteilung, eine dicke Person mit violettem Gesicht, betraute mich mit der Führung der Équipe von Belleville. Anfang Oktober berief sie eine Zusammenkunft von ‹Verantwortlichen›, um uns unsere Instruktionen zu erteilen. Die jungen Mädchen, denen ich bei dieser Zusammenkunft begegnete, glichen auf betrübliche Weise meinen ehemaligen Gefährtinnen aus dem Cours Désir. Ich hatte zwei Mitarbeiterinnen, von denen die eine beauftragt war, Englisch, die andere, Gymnastik zu unterrichten; sie waren beide nahe an dreißig, gingen aber niemals abends ohne ihre Eltern aus. Unsere Gruppe war in einer Art von sozialem Hilfsbüro untergebracht, das von einer großen, dunklen, recht anziehenden Person von etwa fünfundzwanzig Jahren verwaltet wurde; sie hieß Suzanne Boigue und war mir sympathisch. Meine neue Tätigkeit hingegen befriedigte mich nicht durchaus. Einen Abend in der Woche versuchte ich zwei Stunden lang, kleinen Angestellten Balzac oder Victor Hugo näherzubringen; ich borgte ihnen Bücher, und wir
Weitere Kostenlose Bücher