Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Jacob zu entdecken vermöchte. «Oh!», gab ich trocken zurück, «das kann man nicht auf den ersten Blick erkennen.» Alles war entsetzt, und ich musste zugeben, dass ich mir eine Blöße gegeben hatte: Aber in solchen Fällen gab es keine andere Alternative als Pedanterie oder Grobheit. Ich gab mir Mühe, auf derartige Herausforderungen nicht einzugehen, aber meine Eltern wollten sich mit einem solchen Totstellen nicht zufriedengeben. Überzeugt davon, dass ich verhängnisvollen Einflüssen ausgesetzt sei, fragten sie mich argwöhnisch aus. «Was ist denn so Besonderes an deiner Mademoiselle Lambert?», wollte mein Vater wissen. Er warf mir vor, ich hätte keinen Familiensinn und zöge Fremde den Meinen vor. Meine Mutter erkannte im Prinzip an, dass man Freunde, die man sich selbst aussucht, mehr lieben kann als entfernte Verwandte, aber meine Gefühle für Zaza empfand sie als übertrieben. An dem Tage, an dem ich mich bei dieser ausgeweint hatte, berichtete ich von meinem Besuch bei ihr. «Ich bin noch bei Zaza gewesen.» – «Du hast sie doch erst Sonntag gesehen!», bemerkte meine Mutter. «Du brauchst doch schließlich nicht ewig bei ihr zu stecken!» Eine lange Szene war die Folge davon. Einen anderen Konfliktstoff bildete meine Lektüre. Meine Mutter nahm nicht Stellung dazu; sie erbleichte jedoch, als sie
La Nuit kurde
von Jean-Richard Bloch durchblätterte. Zu allen Bekannten sprach sie sich darüber aus, welche Sorgen ich ihr bereitete: zu meinem Vater, Madame Mabille, meinen Tanten, meinen Cousinen, zu ihren Freundinnen. Es gelang mir nicht, das Misstrauen, das ich rings um mich her verspürte, ruhig zu ertragen. Wie lang kamen mir die Abende vor, und die Sonntage erst! Meine Mutter erklärte, man könne in dem Kamin in meinem Zimmer kein Feuer anzünden; ich stellte mir also einen Bridgetisch in den Salon, in dem ein Gaskamin brannte und dessen Tür traditionsgemäß immer weit offen blieb. Meine Mutter blieb in einem unaufhörlichen Kommen und Gehen, neigte sich über meine Schulter und fragte: «Was machst du denn? Was für ein Buch liest du da?» Selber mit einer unverwüstlichen Vitalität begabt, für die sie nur wenig Verwendung fand, glaubte sie an die gute Wirkung der Heiterkeit. Singend, lachend, scherzend versuchte sie ganz für sich allein die fröhliche Stimmung wiederzubeleben, die das Haus zu der Zeit erfüllt hatte, als mein Vater uns noch nicht jeden Abend allein ließ und noch Heiterkeit herrschte. Sie erwartete von mir, dass ich dabei mittat, und wenn ich es an Schwung fehlen ließ, beunruhigte sie sich: «Woran denkst du denn? Was hast du? Warum machst du so ein Gesicht? Natürlich, deiner Mutter willst du es nicht sagen …» Wenn sie dann endlich schlafen ging, war ich zu müde, um die erholende Stille noch recht wahrzunehmen. Wie gern hätte ich nur ganz einfach ins Kino gehen dürfen! Ich streckte mich mit einem Buch in der Hand auf dem Teppich aus, aber der Kopf war mir so schwer, dass ich häufig einschlief. Verstört ging ich endlich zu Bett. In trüber Stimmung wachte ich morgens auf, und meine Tage schleppten sich traurig hin. Von den Büchern hatte ich bis zum Überdruss genug: Ich hatte zu viele gelesen, die alle unaufhörlich den gleichen Refrain wiederholten; neue Hoffnung vermochten sie mir nicht zu geben. Lieber noch schlug ich die Zeit in den Galerien der Rue de Seine oder der Rue de la Boétie tot: Die Malerei lenkte mich von mir selber ab. Ich versuchte es oft. Manchmal verlor ich mich in den Aschentönen des Sonnenuntergangs; ich betrachtete die blassen Chrysanthemen, die vor einer fahlgrünen Rasenfläche goldgelb schimmerten: Zu der Stunde, da das Licht der Straßenlaternen die Laubmassive der Place du Carrousel in eine Operndekoration verwandelte, hörte ich den Springbrunnen zu. An gutem Willen fehlte es mir nicht; ein Sonnenstrahl genügte, damit mein Blut rascher zu strömen begann. Aber es war Herbst, es nieselte; meine Freuden waren rar und verflüchtigten sich rasch. Langeweile und Verzweiflung kehrten schnell zurück. Auch das vorige Jahr hatte schlecht angefangen; ich hatte darauf gerechnet, mich fröhlich ins Leben zu stürzen, aber man hatte mich im Käfig festgehalten und in Acht und Bann getan. Durch ein rein negatives Beginnen hatte ich mir zu helfen versucht: durch den Bruch mit meiner Vergangenheit und mit meinem Milieu; ich hatte auch große Entdeckungen gemacht: Garric, die Freundschaft mit Jacques, die Bücher. Ich hatte wieder Vertrauen zur
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