Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
sprachen darüber. Sie kamen in ziemlich großer Zahl und auch ganz regelmäßig; aber sie taten es doch mehr, um sich untereinander zu treffen und gute Beziehungen zu dem Büro zu unterhalten, das ihnen daneben auch noch substanzielle Dienste erwies. Es gab dort auch eine männliche Équipe; Unterhaltungs- und Tanzabende führten ziemlich oft Burschen und Mädchen zusammen; Tanz, Flirt und alles, was daraus folgte, zogen sie weit mehr an als die Studienzirkel. Ich fand das durchaus normal. Meine Schülerinnen arbeiteten den ganzen Tag über in Schneiderei- oder Modeateliers; die – im Übrigen recht lückenhaften – Kenntnisse, die ihnen vermittelt wurden, hatten keinerlei Beziehung zu ihrem Erfahrungskreis und dienten ihnen zu nichts. Ich fand nichts dabei, wenn man ihnen
Les Misérables
oder
Le Père Goriot
zu lesen gab; aber Garric täuschte sich durchaus, wenn er sich vorstellte, dass ich ihnen damit Bildung brachte; mir selbst jedoch widerstrebte es, Instruktionen zu befolgen, die von mir verlangten, dass ich zu ihnen von der menschlichen Größe oder dem Wert des Leidens sprach: Ich hätte den Eindruck gehabt, mich über sie lustig zu machen. Auch in Bezug auf die Freundschaft hatte Garric mir zu viel in Aussicht gestellt. Die Atmosphäre des Hilfsbüros war zwar eher heiter; aber zwischen den jungen Leuten aus Belleville und denen, die wie ich zu ihnen kamen, gab es weder Intimität noch Gegenseitigkeit. Man schlug gemeinsam die Zeit tot, weiter nichts. Meine Enttäuschung dehnte sich auch auf Garric aus. Er kam, um einen Vortrag zu halten, und ich verbrachte einen guten Teil des Abends mit Suzanne Boigue und ihm. Ich hatte mir leidenschaftlich gewünscht, eines Tages als Erwachsene gewissermaßen auf gleicher Ebene mit ihm sprechen zu können; aber die Unterhaltung kam mir einfach langweilig vor. Er wiederholte unaufhörlich die gleichen Ideen: Freundschaft muss den Hass ersetzen; anstatt nach Parteien, Gewerkschaften, Revolutionen zu urteilen, muss man in den Kategorien Beruf, Familie, Landschaft denken. Das Problem besteht darin, in jedem Menschen den menschlichen Wert zu retten. Ich hörte nur zerstreut auf seine Worte. Meine Bewunderung für ihn war zu gleicher Zeit erloschen wie mein Glaube an sein Werk. Ein wenig später forderte Suzanne Boigue mich auf, den Kranken von Berck Brieflektionen zu erteilen: Ich erklärte mich bereit. Diese Arbeit schien mir wirksam in ihrer Bescheidenheit. Dennoch kam ich zu dem Schluss, dass die ganze ‹Aktion› eine enttäuschende Lösung sei; man verschaffte sich ein trügerisches Alibi, indem man vorgab, sich den anderen zu widmen. Ich hatte keine Vorstellung davon, dass die Aktion auch weit andere Formen annehmen konnte als diejenige, über die ich jetzt mein Verdammungsurteil fällte. Wenn ich auch dunkel ahnte, dass die ‹Équipes› einer Illusion entsprangen, so erlag ich ihr dennoch selbst. Ich glaubte wirklichen Kontakt mit ‹dem Volke› zu haben; es kam mir aufgeschlossen, ehrerbietig vor und durchaus geneigt, mit dem Bevorrechteten zusammenzuwirken. Diese künstlich erzeugte Erfahrung vermehrte im Grunde nur meine Unwissenheit.
Was ich persönlich am meisten an der Einrichtung ‹Équipes› schätzte, war, dass sie mir gestatteten, jeweils einen Abend außerhalb des Hauses zu verbringen. Ich hatte zu der alten Intimität mit meiner Schwester zurückgefunden. Ich sprach zu ihr von Liebe, Freundschaft, vom Glück und von seinen Fallstricken, von der Freude, den Schönheiten des inneren Lebens; sie las Francis Jammes und Alain-Fournier. Auf der anderen Seite verbesserte sich meine Beziehung zu meinen Eltern nicht. Sie wären aufrichtig erschüttert gewesen, hätten sie geahnt, wie sehr ihre Haltung mich betrübte: Sie ahnten es aber nicht. Sie hielten meine Neigungen und Meinungen für ein bloßes trotziges Ablehnen der gesunden Vernunft sowie ihrer selbst und unternahmen bei jeder Gelegenheit Gegenangriffe auf mich. Oft riefen sie ihre Freunde zu Zeugen auf; im Chor prangerten sie dann den Scharlatanismus der moderneren Künstler, den Snobismus des Publikums an und beklagten den Niedergang Frankreichs und der Zivilisation; während dieser Anklagereden hefteten sich alle Blicke auf mich. Monsieur Franchot, ein brillanter Plauderer, der in der Literatur wohlbeschlagen und der Verfasser zweier Romane war, die er auf eigene Kosten hatte drucken lassen, fragte mich eines Abends in sarkastischem Tone, was für Schönheiten ich an dem
Cornet à dés
von Max
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