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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Werk – alles blieb bei mir im Zustande einer ersten hirnlichen Konzeption; ich setzte mich in abstrakter Weise mit abstrakten Möglichkeiten auseinander und schloss daraus auf die erschütternde Belanglosigkeit alles Wirklichen. Ich wünschte mir, etwas fest in der Hand zu halten, und getäuscht durch die Heftigkeit dieses ziellosen Verlangens, verwechselte ich es mit einem Verlangen nach dem Unendlichen.
    Meine Dürftigkeit, meine Ohnmacht hätten mir weniger zugesetzt, hätte ich selbst geahnt, wie beschränkt, wie ahnungslos ich noch war; eine einzige Aufgabe schon hätte mich sehr in Anspruch genommen, nämlich die, mich selbst zu belehren; andere hätten sich dann gewiss sehr bald eingestellt. Das Schlimmste aber, wenn man ein Gefängnis mit unsichtbaren Mauern bewohnt, ist, dass man sich der Schranken nicht bewusst wird, die den Horizont versperren; ich irrte in einem dichten Nebel umher, den ich für durchscheinend hielt. Von dem, was mir entging, ahnte ich nicht einmal, dass es vorhanden war.
    Geschichte interessierte mich nicht. Abgesehen von dem Werke Vaulabelles über die beiden Restaurationen waren mir alle Memoiren, Berichte, Chroniken, die man mir zu lesen gegeben hatte, ebenso wie die Vorlesungen von Mademoiselle Gontran als ein Haufen bedeutungsloser Anekdoten erschienen. Was in diesem Augenblick geschah, zog ebenso wenig meine Aufmerksamkeit auf sich. Mein Vater und seine Freunde sprachen unaufhörlich von Politik, und ich wusste, dass alles völlig verkehrt gemacht wurde; ich hatte keine Lust, mich auch noch mit diesem wilden Durcheinander abzugeben. Die Probleme, die sie bewegten – die Hebung des Franc, Aufhebung der Rheinlandbesetzung, die Utopien des Völkerbundes –, schienen mir der gleichen Ordnung anzugehören wie Familiengeschichten und Geldschwierigkeiten; sie gingen mich nichts an. Weder Jacques noch Zaza beschäftigten sich damit; Mademoiselle Lambert sprach niemals von dergleichen; die Autoren der
Nouvelle Revue française
 – andere las ich kaum – rührten an diese Dinge nicht, außer zuweilen Drieu La Rochelle, dieser jedoch in Wendungen, die für mich ein Buch mit sieben Siegeln blieben. In Russland vielleicht trug sich etwas zu: Aber das war so weit fort. In Bezug auf soziale Fragen war mein Kopf mit den Ideen der ‹Équipes› vollgepfropft, die Philosophie gab sich überhaupt nicht damit ab. Unsere Lehrer an der Sorbonne machten ein System daraus, Hegel und Marx zu ignorieren: In einem dicken Buch über
Le Progrès de la conscience en Occident
hatte Brunschvicg Marx kaum drei Seiten gewidmet, in denen er ihn mit einem ganz obskuren reaktionären Denker in eine Reihe stellte. Er lehrte uns die Geschichte des naturwissenschaftlichen Denkens, niemand aber berichtete uns das Abenteuer der Menschheit. Der sinnlose Hexensabbat, den die Menschen auf der Erde aufführten, mochte Spezialisten interessieren, aber er war nicht würdig, den Philosophen zu beschäftigen. Wenn alles in allem dieser begriffen hatte, dass er nichts wusste und dass es nichts zu wissen gab, wusste er bereits alles. So erklärt es sich, dass ich im Januar schreiben konnte: ‹Ich weiß alles, ich habe alle Dinge von allen Seiten betrachtet.› Der subjektivistische Idealismus, dem ich mich angeschlossen hatte, beraubte die Welt ihrer Stofflichkeit und ihres besonderen Wesens: Es ist nicht erstaunlich, dass ich selbst in der Phantasie nichts Festes gefunden hatte, woran ich mich halten konnte.
    Alles wirkte also zusammen, um mich von der Unzulänglichkeit aller menschlichen Dinge zu überzeugen: meine eigene Lage, der Einfluss Jacques’, die Ideologien, die man mich lehrte, und die Literatur der Zeit. Die meisten Schriftsteller griffen immer wieder ‹unsere Unruhe› auf und suchten mich in eine hellsichtige Verzweiflung hineinzutreiben. Ich gab mich diesem Nihilismus bis zum Äußersten hin. Jede Religion, jede Moral einschließlich des ‹Ich-Kultes› war ein Verdummungsmanöver. Ich erachtete – nicht ohne Grund – alle Fieber für künstlich, die ich früher mit Vergnügen in mir unterhalten hatte. Ich wendete mich ab von Gide und Barrès. In jedem Plan sah ich eine Flucht, in der Arbeit bloße Zerstreuung, die ebenso oberflächlich war wie jede andere. Ein junger Held bei Mauriac betrachtete seine Freundschaften und Vergnügungen als ‹Äste›, an denen er sich schwebend über dem Abgrund festhalten konnte; ich entlehnte ihm dieses Bild. Man hatte das Recht, sich an solchen Ästen

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