Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
spazieren fahren und wollen sich nicht einmal anrühren lassen?» Seine Stimme wirkte jetzt sehr verändert. Er hielt und versuchte, mir einen Kuss zu geben. Ich rannte, von seinen Schimpfreden verfolgt, davon und erreichte noch eben den letzten Zug der Metro. Ich war mir klar darüber, dass ich mit knapper Not einer Gefahr entronnen war; andererseits beglückwünschte ich mich dazu, wirklich einen ‹acte gratuit› begangen zu haben.
An einem anderen Abend spielte ich auf einem Jahrmarkt an der Avenue de Clichy Tischfußball mit einem jungen Burschen, dem eine rosa Narbe quer über die Wange lief; wir hatten erst mit Karabinern geschossen, und er bestand darauf, alles zu bezahlen. Er stellte mir einen Freund vor und spendete mir einen Kaffee. Als ich meinen letzten Autobus sich zur Abfahrt rüsten sah, verabschiedete ich mich von ihm und lief eilends davon. Die beiden schnappten mich in dem Augenblick, als ich mich auf die Plattform schwingen wollte; sie packten mich an den Schultern: «Das ist keine Art!» Der Schaffner zögerte mit der Hand an der Schelle; dann aber zog er den Griff, und der Autobus setzte sich in Bewegung. Ich schäumte vor Wut. Die beiden Burschen versicherten mir, ich selbst habe mich ins Unrecht gesetzt. Man lässt die Leute nicht einfach stehen, ohne es vorher zu sagen. Wir versöhnten uns wieder, und sie bestanden darauf, sie wollten mich zu Fuß nach Hause begleiten; ich legte ihnen mit großer Umsicht dar, dass sie von mir nichts zu erwarten hätten, sie aber ließen nicht locker. Rue Cassette, an der Ecke der Rue de Rennes, fasste mich der mit der Narbe um die Taille. «Wann sehen wir uns wieder?» – «Wann Sie wollen», gab ich feige zurück. Er versuchte mich zu küssen, ich aber wehrte mich. Vier Polizisten auf Rädern tauchten auf; ich wagte sie nicht zu rufen, aber mein Angreifer ließ mich los, und wir machten wieder ein paar Schritte nach meinem Hause zu. Als die Streife vorüber war, packte er mich von neuem beim Handgelenk. «Du hast nicht vor, zum Rendezvous zu kommen, du hast uns nur anführen wollen! So etwas mag ich nicht! Du verdienst, dass man dir eine kleine Lektion erteilt.» Er sah nicht vertrauenerweckend aus: Er würde mich sicher schlagen oder maßlos küssen, und ich wusste nicht, was von beidem mir noch erschreckender erschien. Der Freund jedoch mischte sich ein: «Also los, man kann sich ja verständigen. Er tobt nur so, weil Sie ihn Geld gekostet haben, das ist alles.» Ich leerte meine Handtasche aus. «Ich mache mir einen Dreck aus Geld!», erklärte der andere. «Ich werde ihr zeigen, dass man mit mir so etwas nicht machen kann.» Schließlich ließ er sich doch mit meinem gesamten Vermögen abfinden, das in fünfzehn Franc bestand. «Dafür kann man sich nicht einmal eine Frau leisten!», stellte er giftig fest. Ich schlich mich ins Haus: Diesmal hatte ich wirklich Angst gehabt.
Das Schuljahr ging zu Ende. Suzanne Boigue hatte ein paar Monate bei einer ihrer Schwestern in Marokko verbracht; dort war sie dem Mann ihres Lebens begegnet. Das Hochzeitsfrühstück fand in einem großen Garten in einem der Vororte statt; der Mann war sehr freundlich, Suzanne strahlte, aber dieses Glück kam mir nicht sehr verlockend vor. Im Übrigen fühlte ich mich nicht unglücklich: Jacques’ Abwesenheit, die Gewissheit seiner Liebe wirkten beschwichtigend auf mein Herz, das nicht mehr von den Gefährdungen einer Begegnung, den Zufällen einer Laune in Unruhe gehalten wurde. Ich unternahm Bootsfahrten im Bois mit meiner Schwester, Zaza, Lisa und Pradelle. Meine Freunde verstanden sich gut untereinander, und wenn ich sie zusammen bei mir hatte, machte es mir weniger aus, dass ich selbst mich mit keinem Einzigen von ihnen ganz und gar verstand. Pradelle stellte mir einen Kameraden von der École Normale vor, den er sehr hoch schätzte: Es war einer von denen, die ihn in Solesmes dazu gebracht hatten, auch seinerseits zur Kommunion zu gehen. Er hieß Pierre Clairaut und sympathisierte mit der ‹Action française›; er war sehr klein und sehr dunkel und sah einer Grille ähnlich. Er sollte sich im nächsten Jahr für die ‹Agrégation› melden, wir würden also Studiengefährten sein. Da er eine harte, hochmütige, selbstsichere Miene zur Schau trug, nahm ich mir vor, gleich nach Semesterbeginn herauszubekommen, was sich hinter diesem Panzer verbarg. Mit ihm und Pradelle wohnte ich in der Sorbonne den mündlichen Prüfungen für den ‹Concours› bei; alles drängte
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