Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Sex-Appeal. Ihr duftiges Kleid enthüllte durchaus verlockende Schultern; am Abend setzte sie sich ans Klavier und sang ukrainische Liebeslieder mit einer koketten Mimik, die uns, Zaza und mich, entzückte, die anderen jedoch samt und sonders schockierte. Am Abend machte ich große Augen, als sie anstelle eines Nachthemdes einen Pyjama anlegte. Sie öffnete mir sofort mit großer Redseligkeit ihr Herz. Ihr Vater besaß in Lwow eine große Bonbonfabrik; während sie ihre Studien betrieb, hatte sie für die ukrainische Selbständigkeit gekämpft und ein paar Tage im Gefängnis gesessen. Sie war, um ihre Bildung abzurunden, zunächst nach Berlin gegangen, wo sie zwei oder drei Jahre geblieben war, darauf nach Paris; sie hörte regelmäßig Vorlesungen an der Sorbonne und bekam einen Wechsel von ihren Eltern. Sie hatte ihre Ferien benutzen wollen, um einmal eine französische Familie von innen her kennenzulernen, und war sehr entzückt davon. Am folgenden Tage wurde ich mir darüber klar, wie sehr sie ungeachtet ihrer vollkommenen Erziehung die wohlanständigen Leute schockieren musste; neben ihr, die so anmutig und so weiblich war, wirkten Zaza, ihre Freundinnen und ich wie junge Klosterschwestern. Am Abend amüsierte sie sich damit, der ganzen Versammlung die Karten zu legen, unter Einschluss von Xavier Du Moulin, mit dem sie ohne Rücksicht auf seine Soutane insgeheim flirtete: Er schien nicht unempfänglich für ihre Avancen zu sein und lächelte sie häufig an; sie legte ihm einmal das ‹große Spiel› und sagte ihm voraus, er werde bald der Herzdame begegnen. Die Mütter und älteren Schwestern waren außer sich; hinter ihrem Rücken erklärte Madame Mabille, Stépha kenne ihre Stellung im Hause nicht. «Im Übrigen bin ich sicher, dass sie kein wirkliches junges Mädchen ist», setzte sie hinzu. Zaza hielt sie vor, sie sympathisiere zu sehr mit dieser Ausländerin.
Was mich selbst anbetraf, so frage ich mich, weshalb sie eingewilligt hatte, dass ich eingeladen wurde: zweifellos, um ihre Tochter nicht vor den Kopf zu stoßen; aber sie ließ es sich systematisch angelegen sein, mir jedes vertraute Beisammensein mit Zaza unmöglich zu machen. Den Vormittag verbrachte diese jeweils in der Küche: Es schnitt mir ins Herz zu sehen, wie sie Stunden damit vergeuden musste, unter Assistenz von Bébelle oder Mathé Einmachgläser mit Pergament zu schließen. Während des ganzen Tages war sie nicht eine Minute allein. Madame Mabille ließ sich in immer höherem Maße auf Einladungen und Besuche bei anderen in der Hoffnung ein, für Lili, die bereits aus der ersten Jugend heraus war, eine Partie zu finden. «Dies ist das letzte Jahr, dass ich mich mit dir beschäftige; dich auszuführen hat mich jetzt schon genug gekostet: Jetzt ist deine Schwester an der Reihe», hatte sie ganz öffentlich im Verlaufe eines Abendessens erklärt, an dem auch Stépha teilnahm. Schon hatten ehemalige Zöglinge der École Polytechnique Madame Mabille zu verstehen gegeben, dass sie gern ihre jüngere Tochter heiraten würden. Ich fragte mich, ob sich nicht Zaza doch auf die Dauer davon überzeugen lassen werde, dass es ihre Pflicht als Christin sei, einen Hausstand zu gründen; ebenso wenig wie mit der Einengung durch das Klosterleben fand ich mich für sie mit der Trübsal einer freudlosen Heirat ab.
Einige Tage nach meiner Ankunft vereinigte ein Riesenpicknick die beiden einzigen ‹guten› Familien der Gegend an den Ufern des Adour. Zaza lieh mir ihr Kleid aus rosa Tussor. Sie selbst trug eines aus weißem Seidenleinen mit einem grünen Gürtel und einem Jadekollier; sie war dünner geworden. Oft klagte sie über Kopfschmerzen; sie schlief schlecht; um darüber hinwegzutäuschen, legte sie sich etwas ‹rote Backen› auf; trotz dieses kleinen Kunstgriffs wirkte sie nicht sehr frisch. Aber ich liebte ihr Gesicht, und es tat mir weh, dass sie es liebenswürdig jedem darbieten musste; sie spielte mit allzu großer Leichtigkeit ihre Rolle eines jungen Mädchens der guten Gesellschaft. Wir kamen als Erste an; allmählich strömten die Leute herbei, und jedes Lächeln von Zaza, jede ihrer Reverenzen versetzten mir einen Stich. Ich war mit den anderen tätig: Über das Gras wurden Tischtücher gebreitet, Geschirr und Lebensmittel ausgepackt, und ich selber drehte die Kurbel einer Maschine, in der Eiscreme hergestellt wurde. Stépha nahm mich auf die Seite und bat mich, ihr das System von Leibniz zu erklären. Eine Stunde lang vergaß ich meinen
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