Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
befolgte. Zweifellos war es ihre Christenpflicht, sich ihrer Mutter unterzuordnen; aber als sie eines Tages ein Buch über Port-Royal las, hatte ein Ausspruch von Nicole ihr großen Eindruck gemacht, in welchem er andeutete, dass auch Gehorsam ein Fallstrick des Bösen sein kann. Würde sie nicht, wenn sie sich darein ergab, sich zu vermindern, sich zu verdummen, dem Willen Gottes entgegenhandeln? Wie sollte sie diesen Willen aber mit Sicherheit erkennen? Sie fürchtete, durch Hochmut zu sündigen, wenn sie sich ihrem eigenen Urteil anvertraute, durch Feigheit jedoch, wenn sie einfach dem Druck von außen nachgab. Dieser Zweifel trieb den Konflikt auf die Spitze, von dem sie sich seit langem schon zerrissen fühlte: Sie liebte ihre Mutter, aber auch viele Dinge, die ihre Mutter nicht mochte. Oft zitierte sie mir traurig einen Ausspruch von Ramuz: ‹Die Dinge, die ich liebe, lieben sich untereinander nicht.› Die Zukunft hatte nichts Tröstliches. Madame Mabille lehnte kategorisch ab, dass Zaza sich im nächsten Jahr der Erlangung eines Studiendiploms widmete; sie fürchtete, ihre Tochter könne eine Intellektuelle werden. Der Liebe hoffte Zaza nicht mehr zu begegnen. In meiner Umgebung kam es – wenn auch selten – vor, dass jemand sich aus Neigung verheiratete: Das war zum Beispiel bei meiner Cousine Titite der Fall. «Aber», pflegte Madame Mabille zu sagen, «die Beauvoirs sind Leute außerhalb der Gesellschaft.» Zaza war sehr viel fester als ich in das Milieu des rechtdenkenden Bürgertums eingefügt, wo alle ehelichen Verbindungen durch die Familien zustande kommen; alle diese jungen Leute aber, die sich einfach passiv verheiraten ließen, waren von bestürzender Mittelmäßigkeit. Zaza war dem Dasein glühend zugewandt; deshalb benahm ihr die Aussicht auf eine freudlose Existenz zuweilen allen Lebensmut. Wie in ihrer frühen Kindheit wehrte sie sich durch Aufstellung von Paradoxen gegen den falschen Idealismus ihres Milieus. Als sie Jouvet in
Au grand large
die Rolle eines Trunkenboldes hatte spielen sehen, erklärte sie, sie sei verliebt in ihn, und heftete seine Fotografie mit Reißzwecken über ihr Bett; Ironie, Nüchternheit, Skeptizismus fanden auf der Stelle ein Echo in ihr. In einem Brief, den sie mir zu Anfang der Ferien schrieb, vertraute sie mir an, dass sie manchmal davon träume, radikal auf diese Welt zu verzichten. ‹Nach Augenblicken der Liebe sowohl zum geistigen wie zum physischen Dasein werde ich plötzlich so sehr von dem Gefühl der Eitelkeit alles Irdischen erfasst, dass ich spüre, wie alle Dinge, alle Personen mir entschwinden; ich empfinde dann gegen das ganze Universum eine solche Gleichgültigkeit, dass es mir vorkommt, als sei ich bereits tot. Verzicht auf sich selbst, auf das Dasein, auf alles, der Verzicht der Mönche, die den Versuch machen, bereits in dieser Welt das Leben des Jenseits zu beginnen – ach, wenn Sie wüssten, wie sehr mich das alles verlockt. Sehr oft habe ich mir gesagt, dass dieses Verlangen, in der Gebundenheit die wahre Freiheit zu finden, ein Zeichen der Berufung ist; in anderen Momenten fühle ich mich wieder so sehr vom Leben und von allen Dingen gepackt, dass mir das Klosterdasein wie eine Verstümmelung vorkommt und dass es mir scheint, es sei keinesfalls das, was Gott von mir will. Aber welches auch der Weg sein mag, den ich einschlagen soll, ich kann nicht wie Sie dem Leben mit meinem geschlossenen Selbst entgegengehen; in dem Augenblick, in dem ich mit der größten Intensität existiere, verspüre ich auch schon wieder im Munde den Geschmack des Nichts.›
Dieser Brief hatte mich ein wenig erschreckt. Zaza wiederholte mir darin, dass mein Unglaube uns nicht trenne. Wenn sie aber jemals ins Kloster ginge, wäre sie verloren für mich; und auch für sich selbst, setzte ich in Gedanken hinzu.
Am Abend meiner Ankunft erlebte ich eine Enttäuschung; ich schlief nicht in Zazas Zimmer, sondern in dem einer Mademoiselle Awdikowitsch, einer polnischen Studentin, die als Hauslehrerin für die Ferienzeit engagiert war; sie beschäftigte sich mit den drei jüngsten kleinen Mabilles. Was mich ein wenig tröstete, war, dass ich sie reizend fand: Zaza hatte mir in ihren Briefen mit großer Sympathie von ihr gesprochen. Sie hatte hübsches blondes Haar, gleichzeitig schmachtende und lachende blaue Augen, einen fülligen Mund und einen ganz ungewöhnlichen Charme, dem ich damals aus anerzogener Dezenz noch nicht seinen richtigen Namen gab, nämlich:
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