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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ausgesprochen hatte oder ob sie es nur so geschickt einrichtete: Es gelang mir jedenfalls, sie allein zu sehen; von neuem machten wir lange Spaziergänge und unterhielten uns. Sie sprach zu mir von Proust, den sie weit besser verstand als ich; sie sagte mir, dass sie, wenn sie ihn las, große Lust zum Selberschreiben verspüre. Sie versicherte mir, dass sie sich nächstes Jahr nicht von dem täglichen Betrieb würde aufreiben lassen: Sie würde viel mehr lesen, und wir würden plaudern. Ich hatte einen Einfall, der ihr sehr verlockend schien: Am Sonntagmorgen würden wir uns wieder treffen, um mit meiner Schwester, Jean Pradelle, Pierre Clairaut und ein paar sonstigen Freunden von mir gemeinsam Tennis zu spielen.
    Wir beide, Zaza und ich, verstanden uns fast in allem. Bei Ungläubigen schien ihr kein Verhalten tadelnswert, wofern es nicht anderen schadete: Sie akzeptierte den Immoralismus Gides, das Laster schockierte sie nicht. Andererseits konnte sie sich nicht vorstellen, dass man Gott verehren und dennoch seine Gebote bewusst übertreten könnte. Ich fand diese Haltung logisch, die sich noch dazu in der Praxis mit der meinen deckte: Denn ich gestand zwar anderen alles zu, in meinem eigenen Falle jedoch und in dem der mir Nahestehenden – besonders Jacques’ – hielt ich mich auch weiterhin an die Normen der christlichen Moral. Mit Unbehagen hörte ich eines Tages Stépha laut lachend zu mir sagen: «Mein Gott! Wie naiv diese Zaza ist!» Stépha hatte erklärt, dass selbst in katholischen Kreisen kein junger Mann völlig unerfahren in die Ehe gehe. Zaza hatte protestiert: «Wenn man glaubt, dann lebt man auch seinem Glauben gemäß.» – «Sehen Sie sich doch Ihre Vettern Du Moulin an», hatte Stépha gesagt. «Eben gerade», hatte Zaza zur Antwort gegeben, «sie gehen jeden Sonntag zur Kommunion! Ich garantiere Ihnen, dass sie nicht im Stande der Todsünde leben würden.» Stépha hatte nicht weiter insistiert, aber sie erzählte mir, dass sie am Montparnasse, wohin sie sehr oft ging, unzählige Male Henri und Edgar in eindeutiger Begleitung angetroffen habe: «Im Übrigen braucht man ja nur ihre Gesichter anzusehen!», sagte sie zu mir. Tatsächlich sahen sie nicht gerade wie Unschuldsengel aus. Ich dachte an Jacques: Er hatte ein ganz anderes Gesicht, er war aus anderem Stoff gemacht; es war unmöglich, sich vorzustellen, dass er sich derben Ausschweifungen überließ. Dennoch stellte Stépha, indem sie mich auf Zazas Naivität aufmerksam machte, meine eigenen Erfahrungen in Frage. Für sie war es etwas sehr Gewöhnliches, in Bars oder Cafés zu verkehren, in denen ich nur heimlich das Außergewöhnliche suchte: Sie sah sie zweifellos in einem ganz anderen Licht. Ich wurde mir klar darüber, dass ich die Leute hinnahm, wie sie sich selber gaben; ich vermutete hinter ihnen keine andere Wahrheit als die, zu der sie sich offiziell bekannten; Stépha wies mich darauf hin, dass diese wohlgelenkte Welt auch Hintergründe hatte. Dieses Gespräch beunruhigte mich.
    In diesem Jahr begleitete mich Zaza nicht bis Mont-de-Marsan; ich ging dort zwischen zwei Zügen auf und ab und dachte dabei an sie. Ich war entschlossen, mit aller Kraft dafür einzutreten, dass in ihr das Leben schließlich den Tod überwände.

[zur Inhaltsübersicht]
    Vierter Teil
    IV
    Der diesmalige Beginn des Wintersemesters war keinem anderen gleich. Als ich beschloss, mich auf den ‹Concours› vorzubereiten, war ich endlich dem Labyrinth entronnen, in dem ich seit drei Jahren immer im Kreise herumlief: Ich hatte den Weg betreten, der mich in die Zukunft führte. Alle meine Tage hatten von nun an einen Sinn: Sie trugen mich endgültiger Befreiung entgegen. Die Schwierigkeit meines Unterfangens stachelte mich an; es war keine Rede mehr davon, umherzuschweifen oder bloßer Langeweile anheimgegeben zu sein. Jetzt, da ich etwas auf Erden zu tun hatte, genügte mir diese reichlich als Raum; ich war von der Unruhe, der Verzweiflung, von allen Sehnsüchten befreit. ‹In diesem Heft werde ich nicht mehr tragische innere Auseinandersetzungen festhalten, sondern die einfache Geschichte eines jeden Tages.› Ich hatte den Eindruck, dass nach einer mühevollen Lehrzeit nun mein wirkliches Leben begann, ich stürzte mich freudig hinein.
    Im Oktober, solange die Sorbonne geschlossen war, verbrachte ich meine Tage in der Bibliothèque Nationale. Ich hatte erreicht, dass ich zum Mittagessen nicht nach Hause zu kommen brauchte: Ich kaufte mir Brot und

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