Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
‹Rillettes› und verzehrte sie in den Gärten des Palais-Royal, wo die letzten Rosen ihrem Ende entgegenblühten; auf den Bänken saßen Straßenarbeiter, bissen in große Butterbrote und tranken dazu roten Wein. Wenn es nieselte, flüchtete ich mich in ein Café Biard und fand mich dort zwischen Maurern, die aus ihrem Essnapf speisten; ich freute mich, dem Zeremoniell der Familienmahlzeiten entronnen zu sein; dadurch, dass ich die Ernährung auf das zurückführte, was sie wirklich war, meinte ich einen Schritt zur Freiheit hin zu tun. Dann kehrte ich in die Bibliothek zurück; ich studierte die Relativitätstheorie, die mich sehr interessierte. Von Zeit zu Zeit schaute ich die anderen Leser an und setzte mich mit Genugtuung auf meinem Stuhl zurecht: Unter diesen Gelehrten, Forschern, Suchern, Denkern war ich an meinem Platz. Ich fühlte mich gar nicht mehr aus meinem Milieu ausgestoßen: Ich selbst hatte es verlassen, um in diese Gesellschaft einzutreten, von der ich hier eine Auswahl sah und in der durch den Raum und die Jahrhunderte hindurch alle Geister kommunizierten, die nach Wahrheit trachteten. Auch ich nahm an dem Bemühen der Menschheit um Wissen, Verstehen, sprachliches Vermitteln teil: Ich war in ein großes Kollektivunternehmen miteingestellt und entging so für alle Zeiten der Einsamkeit. Was für ein Sieg! Ich ging wieder an meine Arbeit. Viertel vor sechs verkündete die Stimme des Aufsehers in feierlichem Ton: «Meine Herren – es wird – bald – geschlossen.» Jedes Mal war es eine Überraschung, wenn man von den Büchern kam, draußen Läden, Lichter, Vorübergehende und den Zwerg wiederzufinden, der neben dem ‹Théâtre-Français› seine Veilchen verkaufte. Langsamen Schrittes dahinwandelnd, gab ich mich ganz der Schwermut der Abende und der Heimkehr hin.
Stépha kam ein paar Tage später als ich nach Paris zurück und ging oft in die ‹Nationale›, um Goethe und Nietzsche zu lesen. Mit ihrem immer bereiten Lächeln und Blick gefiel sie den Männern zu sehr, und diese interessierten sie zu sehr, als dass sie wirklich emsig hätte arbeiten können. Wenn sie sich kaum an einem Platz eingerichtet hatte, warf sie schon ihren Mantel über die Schultern und traf draußen irgendeinen ihrer Flirts: den, der sich auf die ‹Agrégation›, die außerordentliche Professur, in Deutsch vorbereitete, den Studenten aus Preußen, den rumänischen Doktor. Wir aßen zusammen zu Mittag, und obwohl sie nicht sehr reich war, lud sie mich in eine Bäckerei zu Kuchen oder zu einem Kaffee in der Bar Poccardi ein. Um sechs gingen wir an den Boulevards spazieren oder – was noch häufiger geschah – tranken bei ihr Tee. Sie bewohnte in einem Hotel in der Rue Saint-Sulpice ein kleines, sehr blau gehaltenes Zimmer; an die Wände hatte sie Reproduktionen von Cézanne, Renoir und Greco geheftet sowie Zeichnungen eines spanischen Freundes, der Maler werden wollte. Ich war gern mit ihr zusammen. Ich liebte die zärtliche Weiche ihres Pelzkragens, ihre kleinen Toques, ihre Kleider, ihr Parfum, ihr Gurren, ihre schmeichelnden Bewegungen. Meine Beziehungen zu meinen Freunden – Zaza, Jacques, Pradelle – waren durch äußerste Strenge charakterisiert gewesen. Stépha hakte mich auf der Straße ein; im Kino schob sie ihre Hand in die meine; sie küsste mich bei jeder Gelegenheit. Sie erzählte mir eine Menge Geschichten, begeisterte sich für Nietzsche, empörte sich gegen Madame Mabille, machte sich über ihre Verehrer lustig: Sie hatte großes Talent, andere nachzumachen, und führte zwischen ihren Berichten kleine Komödien auf, die mich sehr amüsierten.
Sie war auf dem Wege, sich mit einem alten Bestand an Religiosität auseinanderzusetzen. In Lourdes hatte sie gebeichtet und kommuniziert: In Paris kaufte sie sich im Bon Marché ein kleines Messbuch; sie kniete in einer Seitenkapelle von Saint-Sulpice nieder und versuchte zu beten, aber es gelang ihr nicht. Während einer ganzen Stunde war sie vor der Kirche auf und ab gegangen und hatte sich weder entschließen können, wieder hineinzugehen, noch, sich zu entfernen. Mit den Händen hinter dem Rücken und sorgenvoll gefalteter Stirn mimte sie diese ganze Szene mit so viel Behagen, dass ich an ihrem Ernst zu zweifeln begann. Tatsächlich waren die Gottheiten, die Stépha im Grunde verehrte, das Denken, die Kunst, das Genie; wo sie fehlten, schätzte sie immerhin den Verstand, das Talent. Jedes Mal, wenn sie einen ‹interessanten› Mann entdeckt hatte,
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