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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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meine Freundschaften wieder auf. Mademoiselle Lambert interessierte mich nicht mehr. Suzanne Boigue war ihrem Mann nach Marokko gefolgt; aber ich sah jetzt nicht ungern Riesmann wieder und verspürte auch neue Sympathie für Jean Mallet, der zurzeit Repetitor an einem Lyzeum in Saint-Germain war und sich unter Baruzis Leitung auf ein Diplom vorbereitete. Clairaut kam oft in die Nationale. Pradelle schätzte ihn hoch und hatte auch mich von seinem Wert überzeugt. Er war katholisch, thomistisch und ein Jünger von Maurras; ihre Doktrinen missfielen mir auch weiterhin; aber ich hätte gerne gewusst, wie man die Welt sah und wie man sich selber fühlte, wenn man sie sich zu eigen machte: Clairaut beschäftigte mich. Er versicherte mir, ich werde das Examen für die ‹Agrégation› bestehen. «Es scheint, dass Ihnen alles gelingt, was Sie unternehmen», sagte er zu mir. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt. Auch Stépha ermunterte mich: «Sie werden ein schönes Leben haben. Sie werden immer erreichen, was Sie haben wollen.» Meinem Stern vertrauend und sehr zufrieden mit mir selbst, verfolgte ich also meinen Weg. Es war ein schöner Herbst, und wenn ich die Nase aus meinen Büchern hob, beglückwünschte ich mich, dass sich der Himmel so seidenzart über mir spannte.
    Inzwischen dachte ich, um mich zu versichern, dass ich kein Bücherwurm sei, an Jacques; ich widmete ihm ganze Seiten in meinem Tagebuch, ich schrieb ihm Briefe, die ich für mich behielt. Als ich Anfang November seine Mutter sah, war sie sehr liebevoll zu mir; Jacques, sagte sie, frage unaufhörlich, wie es mir gehe, der ‹einzigen Person in Paris, die mich interessiert›; sie lächelte mich vertraulich an, als sie mir diese Worte wiederholte.
    Ich arbeitete hart, ich zerstreute mich, ich hatte mein Gleichgewicht wiedergefunden, und mit Verwunderung erinnerte ich mich jetzt meiner sommerlichen Streiche. Die Bars, die Dancings, in denen ich damals meine Abende verbracht hatte, flößten mir nur noch Widerwillen, ja eine Art von Grauen ein. Diese tugendhafte Abkehr hatte genau den gleichen Sinn wie mein früheres Wohlgefallen daran; trotz meines Rationalismus blieben alle Angelegenheiten der Sinne für mich tabu.
    «Was für eine Idealistin Sie sind!», sagte Stépha oft zu mir. Sie gab sorgfältig acht, mich nicht vor den Kopf zu stoßen. Eines Tages hatte Fernando in dem blauen Zimmer, auf die Zeichnung einer nackten Frau weisend, zu mir gesagt: «Dafür hat Stépha mir Modell gestanden.» Ich war außer mir und warf ihm einen wütenden Blick zu: «Reden Sie doch keinen solchen Unsinn!» Er gestand rasch ein, er habe nur Spaß gemacht. Nicht einen Augenblick lang streifte mich der Gedanke, dass Stépha vielleicht dem Verdikt von Madame Mabille, als diese sagte: «Sie ist kein wirkliches junges Mädchen», durch ihr Verhalten dennoch recht geben könne. Indessen versuchte sie mit aller Schonung, mich doch etwas aufzulockern. «Ich versichere Ihnen, meine Liebe, die physische Liebe ist etwas sehr Wichtiges, besonders für die Männer …» Eines Abends spät, als wir aus dem ‹Atelier› kamen, sahen wir an der Place de Clichy einen Menschenauflauf; ein Polizist hatte gerade einen eleganten jungen Mann verhaftet, dessen Hut in den Rinnstein gerollt war; er sah bleich aus und wehrte sich; die Menge schrie ihn an: «Sie schmutziger Zuhälter, Sie …!» Ich meinte, ich müsse in den Boden versinken. Ich zog Stépha mit mir fort; Lichter und Lärm des Boulevard, die geschminkten Mädchen, alles machte mir Lust, laut herauszuschreien. «Aber was haben Sie denn, Simone? So ist nun einmal das Leben.» Mit völlig ruhiger Stimme setzte Stépha mir auseinander, dass die Männer nun einmal keine Heiligen seien. Gewiss, es war einigermaßen ‹degoutant›, aber schließlich existierte es und spielte sogar für alle Menschen eine sehr große Rolle. Sie illustrierte mir das durch viele Anekdoten. Ich verschloss mich dagegen. Von Zeit zu Zeit unternahm ich gleichwohl einen Versuch zur Aufrichtigkeit: Woher kam mir dieser Widerstand, diese Voreingenommenheit? ‹Hat wohl der Katholizismus in mir einen solchen Hang zur Reinheit hinterlassen, dass die kleinste Anspielung auf diese Angelegenheiten der Sinne mich in eine unsäglich bedrückte Stimmung versetzt? Ich denke an die Colombe bei Alain-Fournier, die sich in einen Teich wirft, um nicht im Punkte der Reinheit Zugeständnisse machen zu müssen. Doch vielleicht ist das Hochmut?›
    Offenbar behauptete ich selber

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