Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
nicht, dass man immer und ewig seine Virginität bewahren müsse. Aber ich redete mir ein, dass man sich auch auf dem Liebeslager rein erhalten kann: Eine echte Liebe sublimiert den Liebesakt, und in den Armen des Erwählten verwandelt sich leichten Sinnes das reine junge Mädchen in eine junge Frau mit klarem Seelenleben. Ich liebte Francis Jammes, weil er die Lust in so schlichten Farben malt, wie das Wasser eines Gebirgsbachs sie hat; ich liebte vor allem Claudel, weil er im Körper die in wunderbarer Weise spürbare Gegenwart der Seele glorifiziert. Ich verwarf, ohne es auszulesen,
Le Dieu des Corps
von Jules Romains, weil die Lust darin nicht als eine andere Erscheinungsform des Geistes geschildert war. Ich war außer mir über die
Souffrances d’un Chrétien
, die Mauriac damals in der
N.R.F
. publizierte. Triumphierend bei dem einen, gedemütigt bei dem anderen, bekam der Körper in beiden Fällen allzu große Wichtigkeit. Ich fühlte mich durch Clairaut schockiert, der in Beantwortung einer Umfrage der
Nouvelles littéraires
von dem ‹Fetzen Fleisch und seiner tragischen Herrschaft› sprach; aber auch durch Nizan und seine Frau, die für Ehegatten völlige sexuelle Freiheit verlangten.
Ich rechtfertigte meinen Widerwillen auf die gleiche Weise wie zu der Zeit, als ich siebzehn Jahre alt war: Alles ist gut, solange der Körper dem Kopf und dem Herzen gehorcht, aber er darf nicht das Übergewicht bekommen. Das Argument war umso weniger stichhaltig, als in der Liebe die Helden von Romains Voluntaristen waren und die Nizans für die Freiheit eintraten. Im Übrigen hatte die vernunftbedingte Prüderie meiner siebzehn Jahre nichts mit dem geheimnisvollen ‹Horror› zu tun, der mich so häufig zum Erstarren brachte. Ich fühlte mich nicht unmittelbar bedroht; manchmal hatte ich Wellen dunkler Beunruhigung in mir aufsteigen fühlen: im ‹Jockey› in den Armen mancher Tänzer oder wenn in Meyrignac, wo wir im Grase des ‹Landschaftsparks› ausgestreckt lagen, meine Schwester und ich uns umschlungen hatten; aber diese seltsamen Zustände waren mir angenehm, ich kam gut mit meinem Körper aus; aus Neugierde, auch aus Sinnlichkeit hatte ich Lust, seine Möglichkeiten und Geheimnisse zu entdecken; ohne Furcht und sogar mit einer gewissen Ungeduld wartete ich auf den Augenblick, da ich zur Frau werden würde. Auf eine merkwürdig umweghafte Weise fühlte ich mich durch Jacques in Frage gestellt. Wenn die physische Liebe nur ein unschuldiges Spiel war, so hatte er keinen Grund, sich ihm zu entziehen; dann aber konnten unsere Gespräche nicht viel Gewicht für ihn haben neben der fröhlichen und berauschenden Gemeinsamkeit mit anderen Frauen; ich bewunderte die Höhe und die Reinheit unserer Beziehungen: Tatsächlich waren sie unvollständig, fade, entsinnlicht, und der Respekt, den Jacques mir entgegenbrachte, war eine Folge der konventionellsten Moral; ich fiel in die undankbare Rolle einer kleinen Cousine zurück, die man gern mag: Welch ein Abstand zwischen diesem Jungfräulein und einem durch seine ganze Manneserfahrung bereicherten Mann! Ich wollte mich mit solcher Inferiorität nicht abfinden und entschied mich daher lieber dafür, im Sinnengenuss eine Verunreinigung zu sehen; dann konnte ich hoffen, dass Jacques sich davor bewahrt haben würde; wenn nicht, würde er mir jedenfalls kein Verlangen mehr, sondern Mitleid einflößen; lieber wollte ich ihm Schwächen verzeihen als aus seinen Freuden verbannt sein. Dennoch schreckte mich auch diese Aussicht. Ich strebte nach einer glasklaren Verschmelzung unserer Seelen; hatte er düstere Vergehen auf sich geladen, so entzog er sich mir in der Vergangenheit und sogar in der Zukunft, denn unsere von Anfang an verfälschte Geschichte würde sich dann mit der nie mehr decken, die ich für uns erfunden hatte. ‹Ich will nicht, dass das Leben beginnt, einen anderen Willen zu bekunden als den meinigen›, schrieb ich in mein Tagebuch. Das war, glaube ich, der tiefe Sinn meiner Angst. Ich wusste fast nichts von der Wirklichkeit. In meinem Milieu deckten Konventionen und Riten sie überall zu; diese Routine langweilte mich zwar, doch ich versuchte nicht, das Leben an der Wurzel zu packen; im Gegenteil, ich schwebte hoch in den Wolken: Ich war Seele, war reiner Geist und interessierte mich nur für Geister und Seelen; der Einbruch der Sexualität zersprengte diese Engelhaftigkeit: Dadurch wurden mir auf einmal in ihrer furchtbaren Einheit Bedürfnis und Ausbruch klar.
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