Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Banalität des Verfahrens verletzt hatte, warf ich mir jetzt vor, ich hätte ihn im Namen abstrakter Prinzipien verurteilt. In Wirklichkeit kämpfte ich gegen Schatten in einem dunklen Raum. Gegen einen legendär gewordenen Jacques, gegen eine Vergangenheit, die nicht mehr war, führte ich ein Ideal ins Feld, an das ich nicht mehr glaubte. Wenn ich es aber verwarf, von welchem Standpunkt aus sollte ich dann richten? Um meine Liebe zu schützen, drängte ich meinen Stolz zurück. Wie konnte ich verlangen, dass Jacques sich von anderen unterschied? Nur, wenn er allen anderen glich und ich sogar wusste, dass er vielen in vieler Hinsicht nachstand: Welche Gründe hatte ich dann, ihn anderen vorzuziehen? Meine Nachsicht ging so weit, dass sie an Gleichgültigkeit grenzte.
Ein Abendessen bei seinen Eltern vermehrte noch meine Verwirrung. In jener Galerie, in der ich so schwerwiegende und so süße Augenblicke verbracht hatte, erzählte mir meine Tante, er habe geschrieben: ‹Grüße Simone sehr herzlich von mir, wenn du sie siehst. Ich habe nicht recht an ihr gehandelt, aber ich handle auch an allen andern nicht recht.› Also war ich für ihn nur eine Person unter anderen! Was mich noch mehr beunruhigte, war, dass er seine Mutter gebeten hatte, ihm im kommenden Jahr seinen jüngeren Bruder anzuvertrauen: Er wollte also weiter als Junggeselle leben? Ich war tatsächlich unverbesserlich. Ich ärgerte mich darüber, dass ich allein unsere Vergangenheit gleichsam erfunden hatte, und nun fuhr ich fort, allein an unserer Zukunft zu bauen. Ich verzichtete also auf weitere Hypothesen. Möge kommen, was will, sagte ich mir. Ich ging sogar so weit, zu denken, dass ich vielleicht ein Interesse daran hätte, mit dieser alten Geschichte endgültig Schluss zu machen und etwas vollkommen Neues anzufangen. Ich wünschte mir noch nicht ganz offen diese Erneuerung, doch sie verlockte mich. Auf alle Fälle entschied ich in mir, dass ich, um zu leben, zu schreiben und glücklich zu sein, auf Jacques durchaus verzichten könne.
Ein Telegramm kündigte mir am Sonntag den Tod meines Großvaters an; entschieden trat meine Vergangenheit in eine Phase der Auflösung ein. Im Bois mit Zaza, allein auf meinen Wegen kreuz und quer durch Paris trug ich ein leeres, unbeschäftigtes Herz in mir. Am Montagnachmittag saß ich auf der besonnten Terrasse des Luxembourg, las die Memoiren von Isadora Duncan und sann meinem eigenen Dasein nach. Es würde nicht weltbewegend, kaum glänzend sein. Ich wünschte mir nur Liebe, die Möglichkeit, gute Bücher zu schreiben, ein paar Kinder, dazu ‹Freunde, denen ich meine Bücher widmen könnte und die meine Kinder mit Denken und Dichtung vertraut machen würden›. Dem Ehemann räumte ich eine recht untergeordnete Stelle in meinem Leben ein. Wenn ich ihm Jacques’ Züge gab, war ich eifrig darauf bedacht, Mängel, die ich mir nicht mehr verhehlte, durch Freundschaft zu überdecken. Das Wesentliche in dieser Zukunft, die ich nun bereits unmittelbar vor mir liegen sah, blieb die Literatur. Ich hatte recht gehabt, nicht zu jung ein Buch der Verzweiflung zu schreiben: Jetzt wollte ich zugleich das Tragische des Lebens und seine Schönheit künden. Während ich noch in dieser Weise über mein Geschick meditierte, sah ich Herbaud, der in Gesellschaft von Sartre am Bassin dahergegangen kam: Er sah mich und tat, als sähe er mich nicht. Geheimnis und Verlogenheit der Tagebücher: Ich erwähnte diesen Zwischenfall nicht, der mich gleichwohl noch eine Weile bedrückte. Es schmerzte mich, dass Herbaud unsere Freundschaft verleugnet hatte, und ich verspürte wieder jenes Gefühl des Verbanntseins, das ich mehr als alles andere hasste.
In Meyrignac war die ganze Familie versammelt; vielleicht lag es an diesem Umtrieb, dass weder die sterbliche Hülle meines Großvaters noch das Haus noch der Park mich sonderlich zu ergreifen vermochten. Mit dreizehn Jahren hatte ich in der Voraussicht geweint, dass ich eines Tages in Meyrignac nicht mehr zu Hause sein werde; jetzt war es geschehen; der Besitz gehörte meiner Tante und meinen Vettern, ich würde ihn dieses Jahr noch als Gast und zweifellos bald überhaupt nicht mehr wiedersehen: Ich rang mir dennoch keinen Seufzer ab. Kindheit, Jugend, das Hufgeräusch der Kühe, die unter den Sternen an die Stalltür pochten, alles lag jetzt sehr weit hinter mir. Nun war ich für anderes bereit: In dieser glühenden Erwartung schmolz alles Bedauern dahin.
Ich kehrte in Trauerkleidern
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