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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Zitat aus Jouve war eine Warnung gewesen; er hatte versucht, zu mir von Magda zu sprechen: Ich hatte ihm ein freimütiges Geständnis jedoch nicht leichtgemacht. Im Übrigen hatte ich seit langem bereits die Wahrheit geahnt, ja sogar gewusst. Was außer alten katholischen Vorurteilen verletzte sie übrigens in mir? Meine Stimmung besserte sich. Ich hatte unrecht, zu verlangen, dass das Leben sich einem im Voraus aufgestellten Ideal anpasste; an mir war es jetzt, mich auf der Höhe dessen zu zeigen, was es mit sich brachte. Stets hatte ich die Wirklichkeit den Trugbildern vorgezogen; ich beendete meine Betrachtung damit, dass ich mir etwas darauf zugutetat, einem wirklichen Geschehnis begegnet und damit fertiggeworden zu sein.
    Am folgenden Morgen erfuhr ich durch einen Brief aus Meyrignac, dass mein Großvater ernstlich erkrankt sei und wohl sterben werde; ich mochte ihn sehr gern, aber er war sehr alt; sein Tod erschien mir als etwas Naturgemäßes, ich war nicht eigentlich traurig. Meine Cousine Madeleine war gerade in Paris; ich aß mit ihr vor einem Café an den Champs-Élysées ein Eis; sie erzählte mir allerlei Geschichten, ich hörte aber nicht richtig zu, dachte vielmehr an Jacques, wenn auch mit einem Gefühl der Aversion. Seine Liaison mit Magda passte allzu gut in das klassische Schema, das mich immer schon angewidert hatte: Der Sohn aus gutem Hause macht in den Armen einer Geliebten von niederem Stand seine ersten Erfahrungen, dann aber, wenn er sich entschließt, ein seriöser Herr zu werden, lässt er sie einfach stehen. Es war banal, es war schnöde. Mit einem Würgen der Verachtung in der Kehle legte ich mich nieder und stand ich wieder auf. ‹Man gibt sich sein Maß je nach den Zugeständnissen, die man sich selber macht.› Diesen Satz von Jean Sarment im Verlaufe der Vorlesungen an der École Normale sprach ich mir wieder und wieder vor, auch während ich mit Jean Pradelle in einer Art von Crèmerie am Boulevard Saint-Michel, ‹Les Yvelynes›, zu Mittag aß. Er sprach von sich. Er behauptete, dass er weniger kühl abwägend sei, als seine Freunde meinten; nur hasse er alle Übertreibungen; er verbot sich, im Ausdruck seiner Gefühle über die Gewissheiten hinauszugehen, die er wirklich besaß. Ich billigte seine Gewissenhaftigkeit. Wenn er mir manchmal anderen gegenüber eher zu nachsichtig schien, so behandelte er doch sich selbst mit ausgesprochener Strenge: Das ist besser als das Gegenteil, dachte ich voller Bitterkeit. Wir ließen an unserem geistigen Auge die Leute vorüberziehen, die wir schätzten, und mit einem Wort erledigte er die ‹Bar-Ästheten›. Ich gab ihm recht. Ich fuhr mit ihm im Autobus bis Passy und ging im Bois spazieren.
    Dort atmete ich den Duft des frisch geschnittenen Grases ein, ging bis zum Park von Bagatelle, geblendet von dem Überschwang der Maßliebchen und gelben Narzissen, der blühenden Obstbäume: Es gab Beete mit roten Tulpen, die ihre Köpfe neigten, Fliederhecken und gewaltige Bäume. Ich las Homer am Ufer eines Wasserlaufes; leichte Wellenbewegungen und machtvolle Sonnenfluten glitten über die rauschenden Blätter hin. Welcher Kummer, fragte ich mich, könnte sich behaupten gegen die Schönheit der Welt? Schließlich war Jacques nicht wichtiger als einer der Bäume dieses Parks.
    Ich war redselig, ich teilte mich gern über alles mit, was mir begegnete, und außerdem wünschte ich mir, dass jemand diese Geschichte von einem ganz unparteiischen Standpunkt aus beurteilen möchte. Ich wusste, Herbaud würde darüber lächeln; Zaza und Pradelle schätzte ich zu hoch, um Jacques einer Verdammung durch sie auszusetzen. Hingegen schüchterte Clairaut mich jetzt nicht mehr ein: Er würde die Tatsachen im Lichte jener christlichen Moral betrachten, der ich mich unwillkürlich immer noch unterstellte: Ich legte ihm meinen Fall vor. Er hörte mir eifrig zu und seufzte dann tief: Wie intransigent die jungen Mädchen doch sind! Er hatte seiner Verlobten gewisse – einsam verübte, wie er mir zu verstehen gab – Jugendsünden gestanden, und anstatt seine Offenheit zu bewundern, war sie offenbar nur schockiert. Ich vermutete, dass sie eine gloriosere Beichte oder aber Schweigen vorgezogen hätte, doch darum handelte es sich nicht. In meinem eigenen Fall tadelte er meine Strenge, fand also Jacques’ Verhalten nicht gar so schlimm. Ich beschloss, mich nach seinem Rat zu richten. Unter Nichtachtung der Tatsache, dass Jacques’ Liaison mich wegen der bürgerlichen

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