Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Lektionen des ‹Eugène›. Er verachtete die Naturwissenschaft, die Industrie und machte sich über alle Formen einer Moral des Allgemeingültigen lustig; er hatte nicht die geringste Ehrfurcht vor der Logik von Lalande oder dem
‹Traité›
von Goblot. Der ‹Eugène› versucht aus seinem Leben eine originale Angelegenheit zu machen und eine gewisse ‹Komprehension› des Einzigartigen zu erreichen, erklärte mir Herbaud. Ich hatte nichts dagegen und benutzte diese Idee, um mir eine pluralistische Moral aufzubauen, die mir erlauben würde, so verschiedene Haltungen wie die von Jacques, von Zaza und von Herbaud selbst zu rechtfertigen; jedes Individuum, entschied ich mich, besaß sein Eigengesetz, das ebenso unabweichlich wie ein kategorischer Imperativ, obwohl nicht allgemeingültig war: Man hatte nicht das Recht, diese Menschen auf andere Art tadeln oder billigen zu wollen als nach Maßgabe dieser ganz privaten Norm. Herbaud war mit diesem Versuch einer Systematisierung durchaus nicht einverstanden. «Das ist die Art des Denkens, die ich nicht leiden kann», erklärte er mir fast böse; aber der Eifer, mit dem ich auf seine Mythologien eingegangen war, trug mir gleichwohl Verzeihung ein. Ich schwärmte für den ‹Eugène›, der in unseren Gesprächen eine große Rolle spielte; ganz offenbar war er Cocteaus Geschöpf, aber Herbaud hatte für ihn eine Menge zauberhafter Abenteuer erfunden und verwendete geschickt seine Autorität gegen die Philosophie der Sorbonne, gegen Ordnung, Vernunft, Wichtigtuerei, Dummheit und alle Vulgaritäten.
Herbaud bewunderte ausdrücklich drei oder vier Personen und verachtete alle Übrigen; mit Entzücken hörte ich ihm zu, wenn er an Blanchette Weiß kein gutes Haar ließ, und gab ihm Clairaut preis. Pradelle griff er nicht an, obwohl er ihn nicht schätzte, aber wenn er mich in der Sorbonne oder der École Normale gerade mit irgendeinem Studienkameraden sprechen sah, hielt er sich verachtungsvoll fern. Er warf mir meine Nachsicht vor. Eines Nachmittags störte mich in der Bibliothèque Nationale der Ungar zweimal mit Fragen über Feinheiten der französischen Sprache: Unter anderem wollte er wissen, ob er das Wort «Gigolo» in der Vorrede einer Prüfungsarbeit werde verwenden können. «Alle diese Leute, die Sie überfallen!», stöhnte Herbaud. «Das ist doch wirklich unerhört! Dieser Ungar da, der Sie zweimal in Anspruch nimmt! Dazu Clairaut! Und alle Ihre Freundinnen! Sie verlieren Ihre Zeit mit Leuten, die es wirklich nicht wert sind. Entweder sind Sie Psychologin oder durch nichts zu entschuldigen!» Gegen Zaza empfand er keine Antipathie, obwohl er fand, sie mache ein zu ernstes Gesicht, aber als ich Stépha erwähnte, ereiferte er sich: «Sie hat versucht, mir schöne Augen zu machen!» Provozierende Frauen missfielen ihm: Sie begaben sich ihrer Rolle als Frau. Eines Tages bemerkte er etwas verstimmt: «Sie sind das Opfer einer Verschwörerbande. Ich frage mich, welcher Platz für mich in Ihrem Universum noch übrig bleibt.» Ich versicherte ihm, was er auch sehr wohl wusste, er nehme eine recht beträchtliche Stelle darin ein.
Er gefiel mir mehr und mehr, und das Angenehme war, dass ich mir dank ihm auch selbst gefiel; andere hatten mich ernst genommen, ihn aber amüsierte ich. Als wir die Bibliothek verließen, sagte er vergnügt zu mir: «Wie schnell Sie gehen! Ich habe das riesig gern: Es sieht aus, als gingen Sie einem Ziel entgegen!» – «Ihre komische raue Stimme», sagte er ein andermal. «Sie ist sonst ganz recht, aber sie ist rau. Sie macht Sartre und mir viel Spaß.» Ich entdeckte erst, dass ich einen Gang, eine Stimme besaß: Das war neu für mich. Ich fing an, so gut es ging, auf meine Toilette zu achten; er lohnte meine Bemühungen mit einem Kompliment: «Das steht Ihnen gut, diese neue Frisur, dieser weiße Kragen.» Eines Nachmittags im Garten des Palais-Royal sagte er mit völlig überraschter Miene zu mir: «Unsere Beziehungen zueinander sind doch seltsam, wenigstens für mich: Ich habe noch niemals eine Freundschaft mit einem weiblichen Wesen gehabt.» – «Das kommt vielleicht daher, dass ich nicht so sehr weiblich bin?» – «Sie?» Er lachte auf eine Weise, die mir sehr schmeichelte. «Nein, es kommt eher daher, dass es nichts gibt, was Sie sich nicht leicht zu eigen machen; man fühlt sich mit Ihnen sofort auf vertrautem Fuß.» In der ersten Zeit redete er mich betont mit ‹Mademoiselle› an. Eines Tages schrieb er in großen
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