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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Morgen jedoch wachte ich fast in Tränen auf. Weshalb schreibt Jacques an die anderen, aber niemals an mich? Ich ging zur Bibliothek Sainte-Geneviève, arbeitete aber nicht. Ich las die
Odyssee
, ‹um die ganze Menschheit zwischen mich und meinen persönlichen Kummer zu rücken›. Das Mittel war nicht sehr wirksam. Wie stand ich eigentlich zu Jacques? Zwei Jahre zuvor war ich, von seiner kühlen Begrüßung enttäuscht, auf den Boulevards umhergelaufen und hatte im Geiste gegen ihn ‹mein Eigenleben› verfochten: Dieses Eigenleben hatte ich jetzt. Aber sollte ich denn den Helden meiner Jugend vergessen, den fabulösen Bruder des Grand Meaulnes, der zu ‹Unerhörtem› berufen und vielleicht sogar vom Genie gezeichnet war? Nein. Die Vergangenheit hielt mich fest: Ich hatte seit langem so sehr gewünscht, sie unvermindert in die Zukunft mitzunehmen!
    Wieder begann ich, zwischen Wehmut und Erwartung hin und her zu schwanken; eines Abends trat ich impulsiv ins ‹Stryx›. Riquet forderte mich auf, an seinen Tisch zu kommen. An der Bar unterhielt sich Olga, Riquets Freundin, mit einer Dunklen, die, in silbriges Pelzwerk gehüllt, mir sehr schön erschien; sie hatte schwarzes, glatt gescheiteltes Haar, ein spitzes Gesicht mit scharlachroten Lippen und lange, seidige Beine. Ich wusste auf der Stelle, dass es Magda war. «Du hast Nachricht von Jacques?», fragte sie. «Fragt er gar nicht, wie es mir geht? Der Kerl hat sich vor einem Jahr gedrückt, und jetzt fragt er nicht einmal nach mir. Noch nicht zwei Jahre ist es gegangen mit uns. Ach! Ich bin doch nicht dumm! So ein Kamel!» Ich nahm diese Worte zur Kenntnis, ließ mir aber im Augenblick nicht anmerken, wie sie auf mich wirkten. Ich diskutierte ruhig bis ein Uhr morgens weiter mit Riquet und seinem Clan.
    Kaum lag ich im Bett, da war es um mich geschehen. Ich verbrachte eine grauenvolle Nacht. Den ganzen Tag über hielt ich mich auf der Terrasse des Luxembourg auf und versuchte, mit der Sache fertigzuwerden. Ich empfand kaum Eifersucht. Die Beziehung zwischen ihm und Magda war offenbar zu Ende; sie hatte nicht lange gedauert und auf Jacques gelastet; er selbst hatte sich tunlichst früh davon zurückgezogen, um den Bruch herbeizuführen. Die Liebe aber, die ich mir zwischen uns beiden wünschte, hatte mit dieser Geschichte nichts gemein. Eine Erinnerung suchte mich noch einmal heim: In einem Buche von Pierre-Jean Jouve, das er mir geliehen hatte, war von Jacques’ Hand ein Satz unterstrichen: ‹Dem einen Freunde vertraue ich mich an, den anderen küsse ich.› Ich aber hatte gedacht: ‹Gut, Jacques, es sei. Mir tut der andere leid.› Er unterstützte bei mir diesen Hochmut noch, indem er mir sagte, er schätze an sich die Frauen nicht, doch ich sei für ihn etwas anderes als eine Frau. Warum dann diese trostlose Öde in meinem Herzen! Warum wiederholte ich mir mit Tränen in den Augen die Worte Othellos: ‹But yet the pity of it, Jago! O Jago, the pity of it, Jago!› Ich hatte eben doch eine schmerzliche Erfahrung gemacht: Die schöne Geschichte meines Lebens wurde immer falscher, je länger ich sie mir erzählte.
    Wie verblendet war ich gewesen, und wie sehr war ich gedemütigt worden! Die trostlosen Stimmungen Jacques’, seinen Überdruss hatte ich irgendeinem Durst nach dem Unmöglichen zugeschrieben. Wie dumm mochten meine abstrakten Antworten ihm vorgekommen sein! Wie weit war ich von ihm entfernt gewesen, als ich uns einander so nah geglaubt hatte! Dabei hatte es an Zeichen nicht gefehlt; zum Beispiel waren da die Gespräche mit seinen Freunden gewesen, die sich auf nur dunkel angedeutete, aber doch offenbar ganz bestimmte Ärgerlichkeiten bezogen. Eine andere Erinnerung noch wurde in mir wach: Ich hatte flüchtig in Jacques’ Auto, neben ihm sitzend, eine überelegante und allzu hübsche dunkle Frau gesehen. Aber immer weiter hatte ich an ihn geglaubt. Wie erfinderisch, wie beharrlich hatte ich mich selber genarrt! Ich allein hatte mir diese Freundschaft von drei Jahren zurechtgeträumt; jetzt hielt ich einzig um der Vergangenheit willen daran fest, diese Vergangenheit aber erwies sich als eine Lüge. Alles brach in sich zusammen. Ich hatte Lust, alle Brücken abzubrechen, einen anderen zu lieben oder fortzugehen bis ans Ende der Welt.
    Dann aber beruhigte ich mich. Mein Traum war falsch, nicht Jacques. Was hatte ich ihm vorzuwerfen? Nie hatte er den Helden oder Heiligen gespielt, sondern mir sogar viel Schlechtes über sich selbst gesagt. Das

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