Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
mich in Bausch und Bogen. Die anderen sprachen ehrfurchtsvoll zu mir, bestenfalls ernst und distanziert. Herbaud lachte mir ins Gesicht, er legte mir die Hand auf den Arm, drohte mir mit dem Finger und nannte mich: «Meine arme Freundin!»; er stellte über meine Person eine Unmenge von kleinen liebenswürdigen, spöttischen, aber stets unerwarteten Betrachtungen an.
    Als Philosoph blendete er mich nicht. Etwas planlos notierte ich: ‹Ich bewundere seine Fähigkeit, über alle Dinge eine eigene Theorie zu haben. Vielleicht hat er sie nur deshalb, weil er in der Philosophie nicht sehr bewandert ist. Er gefällt mir ganz ungemein.› Es fehlte ihm in der Tat an Strenge des philosophischen Denkens, aber er eröffnete mir – was für mich viel wichtiger war – Wege, auf die ich mich brennend gern begeben hätte, ohne dass ich noch den Mut dazu fand. Die meisten meiner Freunde glaubten, und ich hielt mich damit auf, Kompromisse zwischen ihren Gesichtspunkten und den meinen zu finden; ich wagte mich nicht zu sehr von ihnen zu entfernen. Herbaud machte mir Lust, diese Vergangenheit, die mich von ihm trennte, einfach zu liquidieren: Er tadelte meine Beziehungen zu den ‹talas›. Die christliche Askese war ihm gründlich zuwider. Mit vollem Bewusstsein ignorierte er jede metaphysische Angst. Antireligiös, antiklerikal, war er auch antinationalistisch und antimilitaristisch: Er empfand ein wahres Grauen vor allen Formen der Mystik. Ich gab ihm meine Arbeit über die Persönlichkeit zu lesen, auf die ich überaus stolz war; er zog ein Gesicht; er entdeckte darin Überreste eines Katholizismus und einer Romantik, von denen ich mich, so riet er mir, schnellstens befreien sollte. Mit Begeisterung stimmte ich zu. Ich hatte genug von den ‹katholischen Komplikationen›, von den geistigen Sackgassen, den Lügen vom Wunderbaren; jetzt wollte ich wirklich die Erde berühren. Deshalb hatte ich bei meiner Begegnung mit Herbaud den Eindruck, zu mir selbst zu finden: Er wies mir den Weg in meine Zukunft. Er war weder rechtdenkend noch ein Bücherwurm noch ein chronischer Barbesucher; er bewies durch sein Beispiel, dass man sich außerhalb der alten Gleise ein stolzes, freudiges und überlegenes Dasein aufbauen kann; das war genau das, was ich mir für mich selber wünschte.
     
    Diese noch junge Freundschaft ließ mich die Freuden des Frühlings umso stärker empfinden. Ein einziger Frühling im Jahre, sagte ich mir, und im Leben eine einzige Jugend: Man darf sich von den Frühlingen der Jugend nichts entgehen lassen. Ich beendete meine Diplomarbeit, ich las Bücher über Kant, aber der Hauptteil der Arbeit lag hinter mir, und ich war des Erfolges gewiss: Dieser Erfolg, den ich schon in Gedanken vorwegnahm, trat als berauschende Kraft zu allem Übrigen noch hinzu. Mit meiner Schwester verbrachte ich heitere Abende im ‹Bobino›, im ‹Lapin agile›, im ‹Caveau de la Bolée›, wo sie Zeichnungen machte. Mit Zaza nahm ich im Pleyelsaal am Layton-und-Johnston-Festival teil; mit Riesmann besuchte ich eine Utrillo-Ausstellung; ich applaudierte Valentine Tessier in
Jean de la Lune
. Mit Bewunderung las ich
Lucien Leuwen
und voller Spannung
Manhattan Transfer
, das für meinen Geschmack etwas zu konstruiert war. Ich saß in der Sonne im Luxembourggarten und sah am Abend das schwarze Wasser der Seine vorüberfließen, gleichzeitig aufmerksamen Sinnes für Lichter, Farben und mein Herz; das Glück schwellte mir die Brust.
    Ende April traf ich mich eines Abends mit meiner Schwester und Gégé an der Place Saint-Michel; nachdem wir Cocktails getrunken und in einer neuen Bar des Viertels Jazzplatten angehört hatten, begaben wir uns zum Montparnasse. Das fluoreszierende Blau des Neonlichts erinnerte mich an die Volubilis meiner Kindertage. Im ‹Jockey› lächelten vertraute Gesichter mir zu, und wieder einmal drang mir die Stimme des Saxophons weich und schmerzlich ins Herz. Ich sah Riquet dort sitzen. Wir kamen ins Gespräch: Wir sprachen von
Jean de la Lune
und wie immer von Freundschaft und von Liebe; er langweilte mich; wie weit stand er hinter Herbaud zurück! Er zog einen Brief aus der Tasche, ich erkannte Jacques’ Handschrift. «Jacques ändert sich», sagte er, «er wird älter. Er kommt erst Mitte August wieder nach Paris.» Lebhaft setzte er hinzu: «In zehn Jahren bringt er bestimmt Unerhörtes zuwege.» Ich zuckte nicht mit der Wimper. Es kam mir vor, als sei ich von einer Lähmung des Herzens befallen.
    Am folgenden

Weitere Kostenlose Bücher