Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Wenn über die Böschungen der Seine das Dunkel herabgesunken war, sprachen wir atemlos zueinander von unserem triumphalen Morgen: meinen Büchern, ihren Bildern, unseren Reisen, der Welt. Im vorüberziehenden Wasser zitterten lange Lichtsäulen, Schatten glitten über den Pont-des-Arts; wir schlugen unsere schwarzen Schleier über die Augen, um das Schauspiel noch phantastischer zu gestalten. Oft wiesen wir Jacques in unseren Plänen eine Rolle zu; wir sprachen von ihm nicht mehr wie von der Liebe meines Lebens, sondern wie von einem fabelhaften großen Vetter, der der Held unserer Jugendtage gewesen war.
«Ich werde nächstes Jahr nicht mehr hier sein», sagte Lisa zu mir, die mit großer Mühe ihr Diplom bewältigte; sie hatte sich um eine Stelle in Saigon beworben. Zweifellos hatte Pradelle ihr Geheimnis erraten: Er ging ihr aus dem Wege. «Ach! Wie unglücklich ich bin!», murmelte sie mit einem armseligen Lächeln. Wir trafen uns in der Bibliothèque Nationale, in der Sorbonne. Wir tranken Limonade im Luxembourggarten oder aßen in der Dämmerung Mandarinen in ihrem Zimmer mit dem Weißdorndekor auf rosa Grund.
Eines Tages, als wir uns mit Clairaut auf dem Hof der Sorbonne unterhielten, fragte er uns mit seiner eindringlichen Stimme: «Was mögen Sie am liebsten an sich selbst?» Recht unaufrichtig behauptete ich: «Jemand anderen.» – «Ich», sagte Lisa, «die Tür, die ins Freie führt.» Ein andermal erklärte sie mir: «Was mir an Ihnen so gefällt, das ist, dass Sie sich keiner Sache verschließen, Sie lassen immer alle Türen weit offen stehen. Ich selbst bin immer gerade ausgegangen und nehme alles mit. Wie bin ich darauf gekommen, eines Tages bei Ihnen einzutreten? Oder sind Sie gekommen und haben die Idee gehabt, Sie warten einfach auf mich? Es ist doch so, dass man sich, wenn der Besitzer abwesend ist, dennoch denken kann, dass er jeden Augenblick wiederkommen wird; aber so denken die Leute meist nicht …» Es kam vor, dass sie am Abend in ihrem Linonmorgenrock beinahe hübsch aussah: Aber Übermüdung und Verzweiflung trockneten ihr Gesicht gewissermaßen aus.
Niemals sprach Pradelle ihren Namen aus; hingegen erwähnte er häufig Zaza vor mir: «Bringen Sie doch Ihre Freundin mit», sagte er, als er mich zu einer Versammlung einlud, bei der Garric und Guéhenno zusammentreffen sollten. Sie aß zu Hause zu Abend und begleitete mich in die Rue Dufour. Maxence leitete die Veranstaltung, zu der auch Jean Daniélou, Clairaut und andere ‹rechtdenkende› Normaliens erschienen. Ich musste an den Vortrag von Garric vor drei Jahren denken, als er mir noch wie ein Halbgott erschienen war und Jacques in einer mir unzugänglichen Welt so viele Händedrücke austeilte. Ich war auch jetzt noch für Garrics warme, lebendige Stimme zugänglich: Leider kamen seine Äußerungen mir jedoch banal vor, und alle diese ‹talas›, mit denen meine Vergangenheit mich verknüpfte – wie fremd stand ich ihnen heute gegenüber! Als Guéhenno das Wort ergriff, pfiffen ihn die großen Flegel von der ‹Action française› aus; es war unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen. Garric und Guéhenno zogen sich zusammen in eine benachbarte Kneipe zurück, und das Publikum zerstreute sich. Trotz des Regens gingen Pradelle, Zaza und ich noch zusammen ein Stück den Boulevard Saint-Germain und die Champs-Élysées hinauf. Meine beiden Freunde waren weit mehr als sonst zum Lachen aufgelegt und verbündeten sich freundschaftlich gegen mich. Zaza nannte mich ‹die amoralische Dame› – das war der Beiname von Iris Storm in
The Green Hat
. Pradelle übertrumpfte sie noch: «Sie sind ein einsames Gewissen.» Ihr Komplizentum amüsierte mich.
Obwohl dieser Abend ein jämmerliches Fiasko gewesen war, dankte Zaza mir ein paar Tage später in sehr bewegtem Ton; plötzlich war ihr auf entscheidende Weise klar geworden, dass sie die Atrophie des Herzens und des Geistes, die ihre Umgebung von ihr verlangte, niemals erreichen würde. Pradelle und ich bestanden die mündliche Prüfung für unser Diplom in ihrer Anwesenheit; wir feierten unseren Erfolg alle drei in den ‹Yvelynes›. Ich organisierte das, was Herbaud als ‹die große Bois-de-Boulogne-Partie› bezeichnete. An einem schönen warmen Abend fuhren wir mit Booten auf dem See umher, Zaza, Lisa, meine Schwester, Gégé, Pradelle, Clairaut, Zazas zweiter Bruder und ich. Wir stritten uns über den jeweiligen Kurs, es wurde gelacht und gesungen. Zaza trug ein Kleid aus rosa
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