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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Iris Storm, von Napier, ihrer großen Jugendliebe, getrennt; sie konnte ihn nie vergessen, obwohl sie mit zahlreichen anderen Männern schlief; ehe sie aber Napier einer liebenswerten und liebenden Gattin nahm, brachte sie sich lieber um, indem sie mit dem Auto gegen einen Baum fuhr. Ich bewunderte Iris, ihre Einsamkeit, ihre Unbekümmertheit, ihre hochmütige Unangreifbarkeit. Ich lieh Herbaud das Buch. «Ich habe keine Sympathie für leichtfertige Frauen», sagte er zu mir, als er es mir zurückgab. Er lächelte mich an. «So gern ich es habe, wenn eine Frau mir gefällt, so unmöglich ist es mir, eine Frau noch hochzuschätzen, nachdem ich sie besessen habe.» Ich empörte mich: «Man ‹besitzt› nicht eine Iris Storm.» – «Keine Frau erlebt ungestraft den Kontakt mit Männern.» Er wiederholte mir, dass unsere Gesellschaft nur verheiratete Frauen respektiert. Mir war es gleich, ob man mich respektierte oder nicht. Mit Jacques leben und ihn heiraten war dasselbe für mich. In den Fällen aber, in denen man Liebe und Ehe trennen konnte, schien das jetzt auch in meinen Augen das Richtigere zu sein. Eines Tages sah ich im Luxembourggarten Nizan und seine Frau, die einen Kinderwagen schob, und hatte den lebhaften Wunsch, dass dieses Bild für meine Zukunft nicht vorgesehen sein möge. Ich empfand es als peinlich, dass Ehegatten durch materiellen Zwang aneinandergekettet sein sollten: Das einzige Band zwischen Menschen, die einander liebten, sollte die Liebe sein.
    So verstand ich mich also nicht ohne Einschränkung mit Herbaud. Ich wusste weder mit seinem oberflächlichen Ehrgeiz noch mit seiner Achtung vor gewissen Konventionen und manchmal sogar seinem Ästhetizismus etwas anzufangen; ich sagte mir, dass ich, wenn wir alle beide frei gewesen wären, dennoch nicht mein Leben mit dem seinen hätte verbinden mögen; die Liebe betrachtete ich als etwas, was einen völlig ‹engagiert›: Ich liebte ihn demnach nicht. Dennoch ähnelte das Gefühl, das ich für ihn empfand, in seltsamer Weise dem, das Jacques mir eingeflößt hatte. Von dem Augenblick an, in dem ich mich von ihm trennte, wartete ich schon auf unsere nächste Begegnung: Alles, was mir widerfuhr, was mir durch den Kopf ging, war für ihn bestimmt. Wenn wir unser Gespräch beendet hatten und wieder nebeneinander bei der Arbeit saßen, krampfte sich mir das Herz zusammen, weil wir uns bereits wieder dem Abschied näherten: Ich wusste niemals genau, wann ich ihn wiedersehen würde, und diese Ungewissheit stimmte mich traurig; augenblicksweise spürte ich überaus schmerzlich, wie zerbrechlich unsere Freundschaft war. «Sie sind heute so melancholisch!», sagte Herbaud dann freundlich zu mir und ließ sich alles Mögliche einfallen, um mich aufzuheitern. Ich spornte mich selber dazu an, von einem Tag auf den anderen ohne Hoffnung und Furcht dieses Erlebnis wahrzunehmen, das mir von Tag zu Tag einzig Freude schenkte.
    Die Freude setzte sich denn auch durch. Als ich an einem heißen Nachmittag in meinem Zimmer noch einmal das Programm für die Prüfung durchging, erinnerte ich mich an die so ähnlichen Stunden, in denen ich mich auf das Abitur vorbereitet hatte: Ich erlebte den gleichen Frieden, dieselbe eifervolle Glut, und wie viel reicher war ich seit der Zeit meiner sechzehn Jahre geworden! Ich schickte Pradelle einen Brief, um eine Verabredung festzulegen, und schloss mit den Worten: ‹Lassen Sie uns glücklich sein!› Zwei Jahre zuvor hatte ich ihn – er erinnerte mich jetzt daran – gebeten, mich in meinem Misstrauen gegen das Glück zu unterstützen; ich war gerührt von so viel Wachsamkeit. Aber das Wort hatte für mich seinen Sinn gewandelt; es bedeutete jetzt nicht mehr Abdankung und Erschlaffung: Mein Glück hing nicht mehr von Jacques ab. Ich fasste einen Entschluss. Im nächsten Jahr würde ich, selbst wenn ich durchfiele, nicht zu Hause bleiben; bestand ich aber die Prüfung, so würde ich keine Stellung annehmen und Paris nicht verlassen: In allen beiden Fällen hatte ich vor, mich selbständig zu machen und von Stundengeben zu leben. Meine Großmutter nahm seit dem Tode ihres Mannes Pensionärinnen bei sich auf. Ich würde mir bei ihr ein Zimmer mieten und mir dadurch völlige Unabhängigkeit sichern, ohne meine Eltern vor den Kopf zu stoßen. Sie würden damit einverstanden sein. Geld verdienen, ausgehen, Besuch haben, frei sein: Diesmal erschloss sich mir das Leben wirklich.
     
    Ich bezog meine Schwester in diese Zukunft mit ein.

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