Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Seidenleinen und einen kleinen Reisstrohhut; ihre schwarzen Augen blitzten; niemals hatte sie so hübsch ausgesehen; bei Pradelle entdeckte ich wieder die ganze fröhliche Frische, die mir zu Beginn unserer Freundschaft wie Sonnenschein ins Herz gedrungen war. Als ich allein mit ihnen im Boot dahinfuhr, fiel mir von neuem die starke Übereinstimmung zwischen den beiden auf, und ich war ein wenig erstaunt, dass ihre Zuneigung zu mir sich an diesem Abend so intensiv äußerte: Sie richteten an mich die Blicke, das Lächeln, die schmeichelnden Worte, die sie untereinander noch nicht auszutauschen wagten. Als ich am folgenden Tage Zaza bei ihren Besorgungen im Auto begleitete, sprach sie zu mir von Pradelle mit großer Bewunderung. Ganz kurz darauf sagte sie mir, dass der Gedanke an eine Heirat ihr immer grauenvoller sei; sie würde sich nicht darein ergeben, einen mittelmäßigen Menschen zu heiraten, hielt sich aber nicht für würdig, von einem hervorragenden Mann geliebt zu werden. Wieder gelang es mir nicht, die genauen Gründe ihrer Melancholie zu erraten. Um die Wahrheit zu sagen, war ich bei aller Freundschaft für sie ein wenig zerstreut. Der ‹Concours› für die ‹Agrégation› begann am übernächsten Tag. Ich hatte Herbaud Lebewohl gesagt; auf wie lange wohl? Während des Schriftlichen würde ich ihn sehen; dann gedachte er Paris zu verlassen, und nach der Heimkehr wollte er mit Sartre und Nizan für das Mündliche arbeiten. Es war vorbei mit unseren Begegnungen in der Bibliothèque Nationale: Wie sehr würde er mir fehlen! Dennoch war ich am nächsten Tage während des Picknicks, das die ‹Bois-de-Boulogne-Bande› im Walde von Fontainebleau vereinte, sehr gut gelaunt; Pradelle und Zaza strahlten. Nur Clairaut wirkte verstimmt; er machte meiner Schwester eifrig den Hof, aber er hatte damit nicht den geringsten Erfolg. Man muss allerdings gestehen, dass er sich komisch dabei benahm; er lud uns ein, in der Hinterstube irgendeiner Bäckerei etwas zu trinken, und bestellte gleich autoritativ: «Drei Tee.» – «Nein, ich möchte lieber Limonade», sagte Poupette. «Tee ist erfrischender.» – «Ich möchte lieber Limonade.» – «Gut! Dann also dreimal Limonade», bestellte er wütend. – «Aber nehmen Sie doch ruhig Tee.» – «Ich möchte für mich keine Extrawurst.» Unaufhörlich erfand er für sich irgendwelche Niederlagen, die ihn mit Groll erfüllten. Von Zeit zu Zeit schickte er meiner Schwester einen Rohrpostbrief, in dem er sich seiner Übellaunigkeit wegen entschuldigte. Er versprach ein lustiger Kumpan zu werden, er werde sich von nun an dazu erziehen, in allem spontaner zu sein; bei der nächsten Begegnung wirkte dann sein forcierter Überschwang erst recht vereisend auf uns, und seine Miene verkrampfte sich in verhaltenem Ingrimm.
«Viel Glück, Biber», sagte Herbaud mit seiner zärtlichsten Stimme zu mir, als wir uns in der Bibliothek der Sorbonne installierten. Ich stellte neben mich eine Thermosflasche mit Kaffee und eine Schachtel mit Keks; Herrn Lalandes Stimme verkündete: «Freiheit und Bedingtheit»; alle Blicke wendeten sich sinnend zur Decke, dann gerieten die Füllhalter in Bewegung; ich bedeckte viele Seiten mit meiner Schrift und hatte den Eindruck, dass es gutgegangen war. Um zwei Uhr nachmittags holten Zaza und Pradelle mich ab; nachdem wir im ‹Café de Flore›, das damals nur ein beliebiges kleines Café jenes Stadtviertels war, eine Zitronenlimonade getrunken hatten, gingen wir lange in dem mit großen gelben und malvenfarbenen Iris geschmückten Luxembourggarten spazieren. Ich geriet mit Pradelle in eine etwas gespannte Diskussion. Über gewisse Dinge waren wir immer verschiedener Meinung gewesen. Er vertrat den Standpunkt, es bestehe zwischen Glück und Unglück, zwischen Glaube und Unglaube, zwischen irgendeinem Gefühl und der Abwesenheit dieses Gefühls kaum ein Unterschied. Ich war im Innern fanatisch vom Gegenteil überzeugt. Obwohl Herbaud mir vorwarf, mich mit allen möglichen Leuten einzulassen, teilte ich die Menschen doch in zwei Kategorien ein: Für einige hegte ich lebhafte Zuneigung, für die meisten aber hatte ich nur eine verächtliche Gleichgültigkeit übrig. Pradelle warf alle Menschen in ein und denselben Topf. Im Laufe von zwei Jahren hatten unsere Stellungen sich befestigt. Zwei Tage zuvor hatte er mir einen Brief geschrieben, in dem er mit mir ins Gericht ging: ‹Viele Dinge trennen uns, viel mehr Dinge zweifellos, als Sie meinen und
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