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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Sprache war aggressiv, ihr Denken kategorisch, ihre Gerechtigkeit kannte kein Einspruchsrecht. Sie machten sich über die bürgerliche Ordnung lustig; sie hatten es abgelehnt, die Prüfung des E.O.R. über sich ergehen zu lassen; so weit kam ich ohne Mühe mit. In vielen Punkten jedoch stand ich auch weiterhin unter der Suggestion der bürgerlichen Sublimierungsversuche; sie aber führten unerbittlich alle Formen des Idealismus auf ihre Nichtigkeit zurück, sie trieben Spott mit den schönen Seelen, den edlen Seelen, allen Seelen schlechthin, mit den Seelenzuständen, dem Innenleben, dem Wunderbaren, dem Mysterium, den Eliten; bei jeder Gelegenheit bekundeten sie – in ihren Reden, ihrer jeweiligen Haltung, ihren Scherzen – die Überzeugung, dass die Menschen keine Geister, sondern Bedürfnissen unterworfene und in ein brutales Abenteuer hineingestellte Körper seien. Ein Jahr zuvor hätten sie mich noch erschreckt; aber ich hatte seit Semesterbeginn einen langen Weg zurückgelegt, und sehr oft hatte ich das Verlangen verspürt, eine kräftigere Kost zugeführt zu bekommen als die, mit der ich bislang ernährt worden war. Ich begriff rasch, dass der Welt, in die mich meine neuen Freunde entführten, etwas Rohes nur deshalb anhaftete, weil sie nichts bemäntelten; sie verlangten im Grunde nichts weiter von mir, als dass ich wagte, was ich immer gewollt hatte, nämlich der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen. Ich brauchte nicht lange Zeit, um mich zu entscheiden.
     
    «Ich bin glücklich, dass Sie sich so gut mit den ‹petits camarades› verstehen», sagte Herbaud zu mir, «aber …» – «Schon gut», antwortete ich, «Sie sind es immer noch; jawohl, Sie.» Er lächelte. «Sie werden niemals einer der ‹petits camarades› werden», sagte Herbaud zu mir: «Sie sind und bleiben der Biber.» Er sei eifersüchtig, sagte er mir; in der Freundschaft wie in der Liebe wollte er bevorzugt behandelt werden. Er hielt an seiner Prärogative unbedingt fest. Das erste Mal, als die Rede davon war, am Abend gemeinsam auszugehen, schüttelte er den Kopf: «Nein. Heute Abend gehe ich mit Mademoiselle de Beauvoir ins Kino.» – «Schön, auch gut», bemerkte Nizan in stark ironischem Ton, Sartre aber stimmte wohlwollend zu. Herbaud war an jenem Tage in trüber Verfassung; er fürchtete, den ‹Concours› nicht zu bestehen, außerdem war irgendetwas nicht klar Ersichtliches mit seiner Frau. Nachdem wir einen Film mit Buster Keaton angesehen hatten, setzten wir uns in ein kleines Café, aber die Unterhaltung kam nicht recht in Fluss. «Sie langweilen sich doch auch nicht?», fragte er mich mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und viel Koketterie. Nein; aber dass er so seinen Gedanken nachhing, entfernte mich etwas von ihm. Er rückte mir am nächsten Tag, den ich mit ihm unter dem Vorwand verbrachte, ihm bei der Übersetzung der
Nikomachischen Ethik
zu helfen, jedoch wieder näher. Er hatte in einem kleinen Hotel der Rue Vaneau ein Zimmer gemietet, und dort arbeiteten wir: nicht lange, denn Aristoteles langweilte uns tödlich. Er gab mir Fragmente der
Anabasis
von Saint-John Perse zu lesen, von dem ich noch nichts kannte, und zeigte mir Reproduktionen der Sibyllen von Michelangelo. Dann sprach er zu mir von den Unterschieden, die zwischen ihm und seinen Freunden Sartre und Nizan bestanden. Er selbst gab sich ohne Hintergedanken den Freuden dieser Welt hin, ob es nun Kunstwerke, die Natur, Reisen, Bekanntschaften oder Vergnügungen waren. «Die andern beiden wollen immer verstehen; Sartre besonders», sagte er mir. Im Tone bewundernden Schauderns setzte er noch hinzu: «Außer vielleicht, wenn er schläft, hört Sartre nie zu denken auf!» Er fand sich damit ab, dass Sartre mit uns den Abend des 14 . Juli verbrachte. Nach dem Abendessen in einem elsässischen Restaurant sahen wir uns, auf einer Rasenfläche der Cité universitaire sitzend, das Feuerwerk an. Dann stopfte uns Sartre, dessen Großzügigkeit sprichwörtlich war, alle in ein Taxi und traktierte uns im ‹Falstaff› in der Rue Montparnasse bis zwei Uhr morgens mit Cocktails. Sie wetteiferten an Nettigkeit und erzählten mir eine Menge Geschichten. Ich war hochentzückt. Meine Schwester hatte sich getäuscht: Ich fand Sartre noch amüsanter als Herbaud; gleichwohl kamen wir alle drei überein, dass dieser auch weiter die erste Stelle unter meinen Freunden einnehmen würde, und auf der Straße ergriff er ostentativ meinen Arm. Niemals hatte er mir so offen seine

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