Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
wenigstens bewunderte ich grandiose Ausschweifungen, gefährlich gelebtes Leben, die Verlorenen, Alkoholexzesse, Rauschgifte, Leidenschaft. Sartre stand auf dem Standpunkt, wenn man etwas zu sagen hätte, sei jede Verschwendung kriminell. Das Kunstwerk, das literarische Werk war in seinen Augen ein absoluter Zweck; es trug seinen Daseinsgrund, den seines Schöpfers und vielleicht sogar – er sagte es nicht, aber ich vermute, er war davon überzeugt – den des ganzen Universums in sich. Metaphysische Probleme riefen bei ihm nur ein Achselzucken hervor. Er interessierte sich für politische und soziale Fragen, er hatte Sympathie für Nizans Standpunkt; sein eigenes Anliegen aber war nur das Schreiben, alles Übrige stand dahinter zurück. Im Übrigen war er weit mehr Anarchist als Revolutionär; er fand die Gesellschaft, so wie sie war, verabscheuenswert, aber er verabscheute das Verabscheuen nicht; das, was er seine ‹Oppositionsästhetik› nannte, vertrug sich sehr wohl mit dem Vorhandensein von Dummköpfen und von Schelmen, ja postulierte es sogar: Wenn es nichts niederzureißen, zu bekämpfen gäbe, wäre, so meinte er, mit der Literatur nicht viel los.
Von einigen Nuancen abgesehen, stellte ich eine enge Verwandtschaft zwischen seiner Haltung und der meinigen fest. Sein Ehrgeiz war nicht weltlicher Art. Er bemängelte meinen spiritualistischen Wortschatz, aber auch er suchte in der Literatur ein Heil; die Bücher trugen in diese jämmerlich bedingte Welt eine Notwendigkeit hinein, die auch auf ihren Verfasser zurückstrahlte; gewisse Dinge mussten durch ihn gesagt werden, und damit war er um und um gerechtfertigt. Er war jung genug, um bei den Klängen des Saxophons nach drei Martinis sich mit einer gewissen Weichheit über sein Geschick auszulassen; aber, wenn es nötig gewesen wäre, hätte er eingewilligt, anonym zu bleiben; Hauptsache war der Triumph seiner Ideen, nicht sein persönlicher Erfolg. Er sagte sich niemals – wie ich es zuweilen getan hatte –, dass er ‹jemand›, dass er ‹wertvoll› sei; aber er war der Meinung, dass wichtige Wahrheiten – vielleicht ging er sogar so weit zu denken: die Wahrheit überhaupt – sich ihm enthüllt hätten und dass es seine Aufgabe sei, sie der Welt aufzuzwingen. In Tagebüchern, die er mir zeigte, in Gesprächen und sogar in seinen Arbeiten im Rahmen des Studiums vertrat er beharrlich eine Gesamtheit von Ideen, deren Originalität und Folgerichtigkeit seine Freunde in Erstaunen setzte. Aus Anlass einer Umfrage bei den Studenten von heute, die die
Nouvelles littéraires
veranstalteten, hatte er sie systematisch dargelegt. ‹Wir haben von J.-P. Sartre einige hervorragende Seiten erhalten›, schrieb Roland Alix als Einleitung zu dieser seiner Antwort, von der er lange Auszüge abdruckte; tatsächlich zeichnete sich darin eine Philosophie ab, die kaum noch eine Beziehung zu der hatte, die uns in der Sorbonne gelehrt wurde:
‹Es ist eine Paradoxie des Geistes, dass der Mensch, dessen Anliegen es ist, das Notwendige zu schaffen, sich selbst nicht bis zum Niveau des Seins erheben kann, ähnlich darin jenen Wahrsagern, die den anderen die Zukunft prophezeien, nicht jedoch sich selbst. Deshalb sehe ich auf dem Grunde des menschlichen Wesens wie auf dem Grunde der Natur Öde und Traurigkeit. Nicht, dass der Mensch sich nicht selbst als ein
Sein
denkt. Er setzt im Gegenteil sein ganzes Bemühen daran. Daher das Gute, das Böse, Vorstellungen davon, wie der Mensch auf den Menschen einwirkt. Alles eitle Ideen. Eitel auch der Determinismus, der auf kuriose Art die Synthese zwischen Existenz und Sein herzustellen versucht. Wir sind so frei, wie man nur will, aber machtlos … Im Übrigen sind Wille zur Macht, Handeln, Leben nur eitle Ideologien. Es gibt nirgends einen Willen zur Macht. Alles dafür ist zu schwach: Alle Dinge streben zum Tode hin. Das Abenteuer zumal ist eine falsche Lockung, ich meine den Glauben an notwendige, trotz allem existente Verknüpfungen. Der Abenteurer ist ein inkonsequenter Determinist, der sich als frei betrachtet.› Einen Vergleich seiner Generation mit der vorhergehenden schloss Sartre mit den Worten: ‹Wir sind unglücklicher, aber sympathischer.›
Über diesen letzten Satz hatte ich lachen müssen; aber wenn ich mit Sartre sprach, ahnte ich etwas von dem Reichtum dessen, was er seine ‹Theorie der Bedingtheit› nannte und worin im Keime bereits seine Ideen über Sein, Existenz, Notwendigkeit und Freiheit enthalten
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