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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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lächelnd, beobachtete mich Nizan sehr nachdenklich durch seine dicke Brille. Den ganzen Tag kommentierte ich, erstarrt vor Schüchternheit, den
Discours métaphysique
, dann brachte mich Herbaud nach Hause.
    Ich ging nun alle Tage hin, und bald taute ich auf. Leibniz langweilte uns, und es wurde beschlossen, wir wüssten jetzt genug über ihn. Sartre übernahm es, uns den
Contrat social
zu erklären, der ihm besonders gut lag. Tatsächlich war es so, dass in allen Punkten des Programms er weitaus der Beschlagenste war: Wir hörten im Grunde nur zu. Manchmal versuchte ich, mit ihm zu diskutieren; ich nahm mich zusammen, ich gab nicht nach. «Sie ist schwer zu schlagen!», stellte Herbaud amüsiert fest, während Nizan in den Anblick seiner Fingernägel versunken dabeisaß; doch stets behielt Sartre das Übergewicht. Es war unmöglich, ihm böse zu sein: Er scheute keine Mühe, uns von seinem Wissen profitieren zu lassen. ‹Er ist ein fabelhafter geistiger Trainer›, notierte ich. Ich war geblendet von seiner Großherzigkeit, denn diese Zusammenkünfte brachten ihm nichts ein, er gab sich nur, ohne zu rechnen, stundenlang selber aus.
    Wir arbeiteten besonders am Vormittag. Am Nachmittag gönnten wir uns, nachdem wir im Restaurant der Cité oder ‹Chez Chabin› zu Mittag gegessen hatten, eine ausgiebige Muße. Oft schloss sich Nizans Frau, eine schöne, füllige Brünette, uns an. An der Porte d’Orléans war Jahrmarkt. Wir spielten Luftbillard und Tischfußball und versuchten uns in der Schießbude; in der Lotterie gewann ich eine riesige rosa Vase. Dann pressten wir uns alle in Nizans kleines Auto hinein und fuhren kreuz und quer durch Paris, machten aber inzwischen immer einmal halt, um vor irgendeinem Café irgendetwas zu trinken. Ich stattete den Schlafräumen und den Buden der École Normale einen Besuch ab und kletterte, wie es zum Ritual gehört, auch auf die Dächer hinauf. Während unserer Spazierfahrten sangen Sartre und Herbaud mit voller Kehle improvisierte Songs. Sie komponierten eine Motette über eine Kapitelüberschrift bei Descartes: ‹De Dieu. Derechef qu’il existe.› Sartre besaß eine schöne Stimme und ein reichhaltiges Repertoire. Er sang
Ol’ Man River
und jeden Jazz, der damals gerade in Mode war; seine Komikerbegabung war in der ganzen École Normale berühmt: Er war es, der jeweils in der Jahresrevue die Rolle von Lanson übernahm; große Erfolge errang er durch seine Interpretation der
Schönen Helena
und der Romanzen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Wenn er sich selber genügend verausgabt hatte, legte er eine Grammophonplatte auf: Wir hörten Sophie Tucker, Layton und Johnston, Jack Hylton, die Revellers und Neger-Spirituals. Jeden Tag tauchten neue, noch unbekannte Zeichnungen an den Wänden seines Zimmers auf: metaphysisches Getier, neue Heldentaten des ‹Eugène›. Nizan spezialisierte sich auf Porträts von Leibniz, den er als Pfarrer mit einem Tirolerhut auf dem Kopf und den Spuren eines Fußtritts von Spinoza auf seiner Rückseite darstellte.
    Manchmal verließen wir die Cité, um uns in Nizans Gemächer zu begeben. Er wohnte bei den Eltern seiner Frau in einem Mietshaus der Rue Vavin, dessen Front aus lauter Kacheln bestand. An den Wänden hatte er ein großes Porträt von Lenin, ein Reklameplakat von Cassandre und die
Venus
von Botticelli aufgehängt; ich bewunderte die ultramodernen Möbel, die gepflegte Bibliothek. Nizan war der Fortschrittlichste der drei; er besuchte literarische Milieus, er war eingeschriebenes Mitglied der Kommunistischen Partei; er machte uns mit der irischen Literatur und den neuen amerikanischen Romanschriftstellern bekannt. Er war auf dem Laufenden über die letzten Moden und sogar schon über die Mode von morgen: Er führte uns in das triste ‹Café de Flore›, «um es den ‹Deux Magots› zu geben», sagte er, während er mit boshafter Miene an seinen Nägeln herumbiss. Er bereitete ein Pamphlet gegen die offizielle Philosophie und eine Studie über die ‹marxistische Lebensweisheit› vor. Er lachte wenig, aber lächelte oft auf eine grimme Art. Seine Unterhaltungsgabe faszinierte mich, aber wegen seiner stets auf zerstreute Weise spöttischen Miene hatte ich eine gewisse Schwierigkeit, mich ihm gegenüber zu äußern.
    Wie kam es, dass ich mich so rasch akklimatisierte? Herbaud hatte sich bemüht, mich nicht zu verletzen, aber wenn die drei ‹petits camarades› zusammensaßen, war keine Rede davon, dass sie sich Zwang antaten. Ihre

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