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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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alles und nahm niemals etwas als selbstverständlich hin. Wenn er einem Objekt gegenüberstand, so schob er es nicht um eines Mythos, eines Wortes, eines Eindrucks, einer vorgefassten Idee willen beiseite, sondern schaute es an und ließ es nicht wieder fallen, bevor er sein Wie und Wohin und jeden ihm möglicherweise innewohnenden Sinn verstanden hatte. Er fragte sich nicht, was man denken müsste oder was zu denken pikant oder interessant sein könnte, sondern nur danach, was er wirklich dachte. Daher enttäuschte er auch die Ästheten, die nach erprobten Formen der Eleganz verlangten. Nachdem Riesmann, der sich stark von Baruzis Wortgefechten blenden ließ, ihn zwei- oder dreimal einen Vortrag hatte halten hören, erklärte er traurig: «Genie hat er nicht!» Im Verlaufe eines Vortrags über ‹Klassifikation› hatte in diesem Jahre einmal seine in alle Einzelheiten gehende Gewissenhaftigkeit unsere Geduld auf eine schwere Probe gestellt: Schließlich aber war es ihm doch gelungen, uns zu fesseln. Er interessierte immer die Leute, die vor etwas Neuem nicht zurückschreckten, denn, ohne es auf Originalität abzusehen, geriet er nie in irgendeinen Konformismus hinein. Seine hartnäckige, naive Aufmerksamkeit griff alle Dinge mit all ihrer Unmittelbarkeit und Fülle auf. Wie eng war meine kleine Welt neben diesem wimmelnden Universum! Einzig gewisse Geisteskranke, die in einem Rosenkelch eine Wirrnis düsterer Intrigen zu sehen meinten, zwangen mich zu gleicher Bescheidenheit.
    Wir sprachen von unendlich vielen Dingen, vor allem aber über ein Thema, das mich mehr als jedes andere interessierte, nämlich über mich. Wenn andere Leute mein Wesen zu deuten behaupteten, so taten sie es, indem sie mich als einen Annex ihrer eigenen Welt betrachteten, was mich verdross; Sartre hingegen versuchte meinen Platz in meinem eigenen System zu respektieren, er begriff mich im Lichte meiner Werte und Projekte. Er hörte mir ohne Begeisterung zu, als ich ihm von Jacques erzählte; für eine Frau, die so wie ich erzogen worden war, mochte es schwierig sein, um die Ehe herumzukommen: Aber er selbst hielt nicht viel davon. Auf alle Fälle sollte ich mir das bewahren, was das Schätzenswerteste an mir sei: meinen Hang zur Freiheit, meine Liebe zum Leben, meine Neugier, meinen Willen zu schreiben. Nicht nur ermutigte er mich bei diesem Unterfangen, er wollte mir sogar dabei behilflich sein. Da er zwei Jahre älter war als ich – und zwar zwei Jahre, die er wohl ausgenutzt hatte – und sehr viel früher einen viel günstigeren Start gehabt hatte, wusste er über alle Dinge besser Bescheid. Die wahre Überlegenheit aber, die er sich selber zuerkannte und die auch mir in die Augen sprang, war die ruhevolle, besessene Leidenschaft, die ihn zu seinen künftigen Büchern drängte. Früher einmal hatte ich die Kinder verachtet, die weniger als ich auf Krocketspielen oder aufs Lernen brannten; nun aber begegnete ich jemandem, in dessen Augen mein frenetischer Eifer noch immer ein schüchternes Streben war. Und wirklich, wenn ich mich mit ihm vergleiche, wie lau erscheint mir dann mein fieberndes Bemühen! Ich hatte mich für etwas Außergewöhnliches gehalten, weil ich mir mein Leben nicht ohne Schreiben vorstellen konnte: Er lebte nur, um zu schreiben.
    Er hatte gewiss nicht vor, das Leben eines in sein Studierzimmer eingeschlossenen Menschen zu führen; er verabscheute Routine und Hierarchie, Karriere, Haus und Heim, Rechte und Pflichten, den ganzen sogenannten Ernst des Lebens. Er fand sich nur schlecht mit der Vorstellung ab, einen Beruf, Kollegen, Vorgesetzte zu haben, Regeln beobachten und anderen auferlegen zu müssen; niemals würde er ein Familienvater, ja auch nur ein Ehemann werden. Im Sinne der Romantik jener Epoche und seiner dreiundzwanzig Jahre träumte er von großen Reisen: In Konstantinopel würde er mit Hafenarbeitern fraternisieren; in den verrufenen Vierteln sich mit Zuhältern betrinken; er würde den ganzen Erdkreis durchwandern, und weder die Parias Indiens noch die Popen vom Atlasgebirge noch die Neufundlandfischer sollten Geheimnisse vor ihm haben. Er würde nirgends Wurzel schlagen, sich mit keinem Besitz belasten; nicht, um sich zwecklos verfügbar zu erhalten, sondern, um von allem Zeugnis ablegen zu können. Alle seine Erfahrungen sollten seinem Werk zugutekommen, kategorisch würde er alle Erlebnisse von sich abweisen, die ihn vermindern könnten. Darüber unterhielten wir uns immer wieder. In der Theorie

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