Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
mich nicht selbst zu übertreffen, so doch mein Niveau zu wahren. Die Partie begann immer wieder von neuem. Hätte ich sie verloren, wäre ich tief betroffen gewesen, ein Sieg hingegen war jedes Mal für mich ein Grund zum Triumph. Mein Schuljahr wurde jeweils durch Glanzpunkte dieser Art markiert. Jeder Tag führte mich irgendwohin. Ich bedauerte die Erwachsenen, deren schale Wochen nur eben durch fade Sonntage etwas Farbe erhielten. Zu leben, ohne auf etwas zu warten, kam mir grauenhaft vor.
Ich wartete auf etwas, und ich wurde erwartet. Unermüdlich kam ich einer Form des Daseins nach, die mir die Frage ersparte: Weshalb bin ich da? Wenn ich an Papas Schreibtisch saß, einen englischen Text übersetzte oder einen Aufsatz ins Reine schrieb, nahm ich meinen Platz auf Erden ein und tat, was getan werden musste. Der Bestand an Aschbechern, Tintenfässern, Papiermessern, Bleistiften, Federhaltern, der die rosa Schreibunterlage umsäumte, nahm an dieser Notwendigkeit teil: Sie erstreckte ihre Bahn durch die ganze Welt. Von meinem Arbeitsplatz aus vernahm ich die Harmonie der Sphären.
Indessen gab ich mich nicht mit dem gleichen Eifer allen meinen Aufgaben hin. Meine Anpassungsfreudigkeit hatte Wünsche und Abneigungen in mir trotz allem nicht aufgehoben. Wenn in La Grillère Tante Hélène ein Kürbisgericht auf den Tisch brachte, verließ ich eher weinend den Tisch, als dass ich es angerührt hätte; weder Drohungen noch Schläge hätten mich zum Käseessen gebracht. Doch auch noch ernstere Formen des Starrsinns zeigten sich bei mir. So konnte ich keine Langeweile vertragen, sie artete bei mir sofort in Angstzustände aus; deshalb hasste ich, wie ich schon sagte, allen Müßiggang; doch auch Arbeiten, die meinen Körper lähmten, ohne meinen Geist zu fesseln, schufen das gleiche Leeregefühl in mir. Meiner Großmutter war es gelungen, mich für Sticken und Filetarbeiten zu interessieren: Hier hieß es, Wolle oder Baumwolle mit einem Modell oder dem Stramin in Einklang zu bringen, das war eine Weisung, die nicht ohne Reiz für mich war; ich stellte ein Dutzend Kinderhäubchen her und bekleidete einen der Stühle meines Zimmers mit einer – übrigens hässlichen – Gobelinstickerei. Aber für Rollsäume, überwendliche Nähte, Stopfarbeiten, Languetten, Kreuzstich, Federstickerei und Makramee war ich nicht zu haben. Um meinen Eifer anzustacheln, erzählte Mademoiselle Fayet mir eine Anekdote; einem heiratsfähigen jungen Mann rühmte man die Vorzüge eines musikalischen, gebildeten, mit hundert Talenten ausgestatteten jungen Mädchens. «Kann sie nähen?», hatte er gefragt. Bei allem Respekt vor Mademoiselle Fayet hielt ich es doch für töricht, durch die Launen eines unbekannten jungen Mannes auf mich einwirken zu wollen. Ich besserte mich denn auch nicht. Auf allen Gebieten zeigte ich mich zwar überaus begierig, die Sache selbst zu erlernen, doch die Ausführung langweilte mich. Wenn ich meine englischen Unterrichtsbücher aufschlug, meinte ich zu verreisen und gab mich mit leidenschaftlichem Eifer ihrem Studium hin; um eine korrekte Aussprache hingegen bemühte ich mich nie. Eine Sonatine aus den Noten zu entziffern, machte mir Spaß; sie spielen zu lernen widerstand mir bereits; ich rasselte meine Tonleitern und Fingerübungen nur schlecht und recht herunter, woraufhin ich bei der Klavierprüfung eine der Letzten wurde. Beim Gesang interessierte mich einzig die Theorie; ich sang falsch und versagte kläglich beim Musikdiktat. Meine Schrift war so formlos, dass man vergebens versuchte, durch Privatstunden eine Besserung zu erreichen. Sollte der Lauf eines Flusses oder der Umriss eines Landes nachgezeichnet werden, so war meine Ungeschicklichkeit derart eklatant, dass sie den Tadel entwaffnete. Dieser Zug sollte mir auch künftighin immer bleiben. Ich widerstrebte jeder praktischen Tätigkeit, und gewissenhafte Kleinarbeit wurde nie meine Stärke.
Nicht ohne Enttäuschung stellte ich solche Mängel an mir fest; ich hätte mich gern auf allen Gebieten ausgezeichnet. Aber die Gründe dafür saßen viel zu tief, als dass eine plötzliche Willensentscheidung sie hätte beeinflussen können. Sobald ich nachzudenken verstand, hatte ich eine unbegrenzte Macht und gleichwohl lächerliche Beschränkungen in mir entdeckt. Wenn ich schlief, verschwand die Welt; sie brauchte mich, um gesehen, erkannt, um verstanden zu werden; ich fühlte mich mit einer Mission betraut, die ich voll Stolz erfüllte; aber ich ging dabei
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