Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
aufzulehnen, und da ich sie im Stich ließ, bezog sie mich in ihre Revolte mit ein. Sie war in der gleichen Klasse wie unsere Cousine Jeanne, die sie zwar sehr liebte, deren Geschmack sie jedoch nicht teilte; sie sah sich aber gezwungen, Jeannes Freundinnen zu besuchen, törichte, anmaßende kleine Mädchen, die sie nicht ausstehen konnte; sie war innerlich wütend, dass man diese Geschöpfe ihrer Freundschaft für würdig hielt; aber es kam noch schlimmer. Im Cours Désir sah man auch weiterhin Poupette als einen notwendigermaßen unvollkommenen Abklatsch ihrer älteren Schwester an; sie fühlte sich oft gedemütigt, woraufhin sie als hochmütig galt; als gute Erzieherinnen hatten die Damen nichts anderes im Sinn, als sie noch mehr zu demütigen. Da ich in allem schon weiter fortgeschritten war, beschäftigte mein Vater sich vor allem mit mir; ohne für ihn die gleiche Verehrung zu hegen wie ich, litt meine Schwester unter dieser Parteilichkeit; den einen Sommer in Meyrignac lernte sie, um zu beweisen, dass ihr Gedächtnis besser als meines sei, die Liste sämtlicher Marschälle Napoleons mit allen Namen und Titeln auswendig; sie sagte sie in einem Zuge auf; meine Eltern lächelten nur. In ihrer Verzweiflung betrachtete sie mich mit ganz neuen Augen: Sie suchte nach Schwächen bei mir. Mich aber reizte es, dass sie jetzt – wenn auch nur ganz schüchtern – darauf Anspruch erhob, mit mir zu rivalisieren, mich zu kritisieren und sich von mir unabhängig zu machen. Schon immer waren wir aneinandergeraten, weil ich heftig war und sie leicht weinte; sie weinte jetzt weniger, doch unsere Zwietracht nahm einen ernsthaften Charakter an: Wir setzten unsere Eigenliebe darein; jede suchte das letzte Wort zu haben. Indessen söhnten wir uns immer schließlich wieder aus, wir brauchten eins das andere. Wir hatten die gleiche Art, unsere Kameradinnen, die Damen des Cours Désir, die Familienmitglieder zu beurteilen; wir verbargen einander nichts und fanden noch immer das gleiche Vergnügen am gemeinsamen Spiel. Wenn unsere Eltern abends ausgingen, machten wir uns ein Fest daraus; wir bereiteten uns Omelette soufflée, die wir in der Küche aßen, wir stellten die Wohnung mit viel Lärm auf den Kopf. Jetzt, da wir im gleichen Zimmer schliefen, setzten wir noch lange im Bett unsere Spiele und Gespräche fort.
In dem Jahr, in dem wir in die Rue de Rennes umzogen, fing ich an, schlechter zu schlafen. Hatte ich wohl die Enthüllungen Madeleines schlecht verdaut? Nur eine dünne Wand trennte jetzt mein Bett von dem meiner Eltern, in dem ich meinen Vater schnarchen hörte; war ich empfindlich gegen dies nahe Zusammenhausen? Ich wurde von Albdrücken heimgesucht. Ein Mann sprang auf mein Bett, er drückte mir das Knie in den Magen, mir war, als müsste ich ersticken; ich träumte angestrengt, dass ich aufwachte, doch das Gewicht meines Angreifers lastete nur noch mehr auf mir. Zur gleichen Zeit ungefähr wurde das Aufstehen für mich ein so schmerzhaft dramatischer Vorgang, dass meine Kehle schon am Abend vorher, wenn ich nur daran dachte, wie zugeschnürt war und meine Hände sich mit Schweiß bedeckten. Wenn ich am Morgen die Stimme meiner Mutter hörte, wünschte ich mir, ich würde krank, ein solches Grauen empfand ich, sobald ich mich dem einlullenden Dunkel wieder entziehen musste. Am Tage hatte ich Schwindelanfälle, ich bekam die Bleichsucht. Mama und der Arzt stellten fest: «Das ist das Entwicklungsalter.» Ich hasste dieses Wort ebenso sehr wie die unmerklich sich vollziehende Veränderung in meinem Körper. Ich beneidete die ‹erwachsenen jungen Mädchen› um ihre Freiheit, aber großes Unbehagen befiel mich bei der Vorstellung, dass mein Körper sich stärker ausprägen würde; ich hatte früher einmal erwachsene Frauen geräuschvoll ihre Blase entleeren hören; wenn ich an die wassergefüllten Schläuche dachte, die sie in ihrem Innern bergen mussten, erfasste mich ein Grauen, wie Gulliver es verspürte, als eines Tages junge Riesinnen vor ihm ihre Brust entblößten.
Seitdem ich das Geheimnis der verbotenen Bücher gelüftet hatte, erschreckten sie mich weit weniger als zuvor; oft ließ ich meinen Blick auf den Stücken Zeitungspapier ruhen, die im WC aufgehängt waren. Auf diese Weise geriet ich an einen Feuilletonroman, in dem der Held seine glühenden Lippen auf die weiße Brust der Heldin drückte. Dieser Kuss brannte in mir fort; gleichzeitig Mann, Frau und begieriger Zuschauer, gab, ertrug und erschaute
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