Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
dem Hochmut und verloren schließlich jedes Maß. Das war auch bei Victor Hugo der Fall, dessen Gedichte mir mein Vater enthusiastisch deklamierte, den aber schließlich Eitelkeit zugrunde gerichtet hatte; dasselbe auch bei Zola, bei Anatole France, bei vielen anderen. Selbst diejenigen, die er ohne Vorbehalt hochschätzte, zeigten sich in ihrem Werke begrenzt: Mein Vater jedoch sprach mit lebendiger Stimme, sein Denken war ungreifbar und unumschränkt. Menschen und Dinge erschienen vor seinem Richterstuhl: Er fällte souverän sein Urteil über sie.
Sobald er guthieß, was ich tat, war ich meiner sicher. Jahrelang hatte er mir nur Lob erteilt. Als ich in das ‹undankbare Alter› kam, enttäuschte ich ihn jedoch; an Frauen schätzte er Eleganz und Schönheit. Nicht nur machte er kein Hehl aus seiner Enttäuschung, sondern er zeigte auch mehr Interesse als früher für meine Schwester, die ein hübsches Kind geblieben war. Er strahlte vor Stolz, als sie im Kostüm der ‹Königin der Nacht› paradierte. Er nahm manchmal an Aufführungen teil, die ein Freund von ihm, Monsieur Jeannot – ein eifriger Förderer des christlichen Theaters –, bei Wohltätigkeitsfesten in den Vororten veranstaltete; er ließ Poupette an seiner Seite auftreten. Das Gesicht von langen blonden Zöpfen umrahmt, spielte sie die Rolle des kleinen Mädchens in Max Maureys
Apotheker
. Er brachte ihr bei, Fabeln mit geschickten Pausen und bestimmten Effekten aufzusagen. Ohne es mir einzugestehen, litt ich unter dem guten Einvernehmen der beiden und hegte einen unbestimmten Groll gegen meine Schwester.
Meine wirkliche Rivalin jedoch war meine Mutter. Ich träumte davon, zu meinem Vater eine richtige persönliche Beziehung zu haben; aber selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wo wir beide allein waren, sprachen wir, als ob Mama anwesend sei. Wenn ich im Falle eines Konflikts bei meinem Vater Hilfe suchte, würde er geantwortet haben: «Tu, was deine Mutter dir sagt!» Er hatte uns zu den Rennen in Auteuil mitgenommen; der Turf war schwarz von Menschen, es war heiß, nichts geschah, und ich langweilte mich; endlich wurde das Zeichen zum Start gegeben: Die Leute stürzten an die Schranken, und ihre Rücken verdeckten für mich die Bahn. Mein Vater hatte uns Klappstühle gemietet, ich wollte auf meinen steigen. «Nein», sagte Mama, die Menschenmengen hasste und von dem vielen Gedränge nervös geworden war. Ich bestand auf meinem Willen. «Nein, auf keinen Fall», wiederholte sie. Da sie gerade mit meiner Schwester beschäftigt war, wandte ich mich an Papa und bemerkte wütend: «Mama ist ja lächerlich! Weshalb darf ich nicht auf meinen Stuhl steigen?» Er zuckte verlegen die Achseln und ergriff nicht Partei.
Wenigstens ließ diese etwas zweifelnde Geste für mich die Vermutung zu, dass Papa seinerseits manchmal Mama etwas zu herrisch fand; ich redete mir ein, dass gleichwohl zwischen uns ein geheimes Einverständnis bestehe. Diese Illusion jedoch musste ich fallenlassen. Beim Mittagessen war von einem vergnügungssüchtigen erwachsenen Vetter die Rede, der seine Mutter als Idiotin traktierte: Wie sogar mein Vater zugestand, war sie es in der Tat. Er erklärte indessen mit aller Leidenschaft: «Ein Kind, das sich ein Urteil über seine Mutter erlaubt, benimmt sich ganz unmöglich.» Ich wurde scharlachrot und erhob mich unter dem Vorwand, ich fühlte mich nicht wohl, vom Tisch. Ich selbst erlaubte mir ja ein Urteil über meine Mutter. Mein Vater hatte mir einen zweifachen Schlag versetzt, einmal, indem er die Solidarität mit meiner Mutter bekräftigte, und ein zweites Mal, indem er mein Verhalten indirekt als unmöglich bezeichnete. Was mich noch mehr erschütterte, war, dass ich mir ein Urteil auch über die Bemerkung bildete, die er soeben gemacht hatte. Wenn die Dummheit meiner Tante in die Augen sprang, weshalb sollte ihr Sohn sie nicht auch erkannt haben? Es war nicht schlecht, sich selbst die Wahrheit einzugestehen, und sehr oft im Übrigen tat man es unwillkürlich; in diesem Augenblick zum Beispiel konnte ich nicht anders als denken, was ich dachte: War das meine Schuld? In einem gewissen Sinne sicherlich nicht, und dennoch quälten mich die Worte meines Vaters so, dass ich mich gleichzeitig frei von Schuld und wie ein Monstrum fühlte. In der Folge und vielleicht wegen dieses Zwischenfalls gestand ich meinem Vater keine absolute Unfehlbarkeit mehr zu. Dennoch behielten meine Eltern die Macht, mich zur Schuldigen zu stempeln; ich
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