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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nahm ihre Verdikte hin, während ich mich gleichzeitig mit andern Augen betrachtete als sie. Die Wahrheit meines Wesens gehörte ihnen noch ebenso sehr wie mir: Aber paradoxerweise konnte meine Wahrheit, wie sie in ihnen festgelegt war, nur eine Täuschung, eine Fälschung sein. Es gab nur ein Mittel, dieser seltsamen Verwirrung zu begegnen: Ich musste ihnen den trügerischen Schein verhehlen. Ich hatte mich gewöhnt, auf meine Worte zu achten: Nun verdoppelte ich meine Vorsicht und ging noch einen Schritt weiter. Wenn ich schon nicht alles eingestand, weshalb sollte ich nicht auch wagen, uneingestehbare Handlungen zu begehen? Ich lernte das Heimlichtun.
     
    Meine Lektüre wurde mit der gleichen Strenge wie früher überwacht; außerhalb der speziell für Kinder bestimmten oder im Hinblick auf sie gereinigten Literatur bekam ich nur eine kleine Zahl von ausgewählten Werken in die Hände; noch dazu übten sehr häufig meine Eltern eine Zensur über gewisse Stellen aus. Sogar in
L’Aiglon
glaubte mein Vater so manches streichen zu müssen. Im Vertrauen jedoch auf meine Loyalität schlossen meine Eltern den Bücherschrank nicht ab; in La Grillère durfte ich die gebundenen Bände der
Petite Illustration
mit mir nehmen, nachdem darin die Stücke bezeichnet waren, die für mich ‹geeignet› schienen. In den Ferien hatte ich immer zu wenig zu lesen; als ich
Primerose
und
Les Bouffons
beendet hatte, betrachtete ich gierig die Menge von bedrucktem Papier, die in Reichweite im Gras lag. Seit langem schon gestattete ich mir kleinere Akte des Ungehorsams; meine Mutter hatte mir verboten, zwischen den Mahlzeiten zu essen; auf dem Lande aber trug ich jedes Mal in meiner Schürze ein Dutzend Äpfel mit mir fort: Keinerlei gesundheitliche Nachteile hatten mich für diesen Übergriff bestraft. Seit meinen Gesprächen mit Madeleine zweifelte ich, dass Sacha Guitry, Flers und Caillavet, Capus oder Tristan Bernard schädlicher für mich sein würden. Ich wagte mich auf verbotenes Terrain. Ich erkühnte mich sogar, mich an Bernstein und Bataille zu wagen, und trug keinerlei Schaden davon. Unter dem Vorwand, ich werde mich ganz auf die
Nächte
von Musset beschränken, setzte ich mich in Paris mit einem dicken Band seiner vollständigen Werke zur Lektüre nieder und las das ganze Theater,
Rolla
, die
Confession d’un enfant du siècle
. Von nun an bediente ich mich jedes Mal, wenn ich allein im Haus war, ganz nach Belieben aus dem Bücherschrank. In dem Ledersessel verbrachte ich wundervolle Stunden damit, die ganze Sammlung der Neunzig-Centime-Romane zu verschlingen, die Papa in seiner Jugend entzückt hatten: Bourget, Alphonse Daudet, Marcel Prévost, Maupassant, die Brüder Goncourt. Sie vervollständigten meine sexuelle Erziehung, wenn diese auch immer noch etwas lückenhaft blieb. Der Liebesakt dauerte manchmal eine ganze Nacht, manchmal ein paar Minuten, zuweilen schien er eine ganz dumme Sache zu sein und manchmal überaus genussreich; er war von Raffinements und Variationen begleitet, die mir ein Buch mit sieben Siegeln blieben. Die offensichtlich fragwürdigen Beziehungen der ‹Civilisés› von Farrère zu ihren Boys oder die zwischen Claudine und ihrer Freundin Rézi verwirrten die Frage noch mehr. Ob es nun aus Mangel an Talent oder aufgrund der Tatsache war, dass ich gleichzeitig zu viel und zu wenig wusste: Jedenfalls gelang es keinem dieser Schriftsteller, mich so tief im Innern zu bewegen wie einst Christoph von Schmid. Alles in allem setzte ich diese Erzählungen kaum zu meinem eigenen Erleben in Beziehung; ich war mir klar darüber, dass sie größtenteils eine bereits untergegangene Gesellschaft schilderten; abgesehen von Claudine und Mademoiselle Dax von Farrère interessierten mich die Heldinnen – alberne junge Mädchen oder oberflächliche Damen von Welt – nur wenig; die Männer kamen mir höchst mittelmäßig vor. Keines dieser Werke vermittelte mir ein Bild der Liebe oder eine Vorstellung von meinem Frauenlos, das befriedigend für mich gewesen wäre; ich suchte in ihnen nicht eine Vorahnung meiner Zukunft; aber sie schenkten mir, was ich bei ihnen suchte: Sie entführten mich in andere Bereiche. Dank ihnen überschritt ich die Grenzen meiner Kindheit, ich trat in eine komplizierte, abenteuerreiche, unvorhergesehene Welt ein. Wenn meine Eltern abends ausgingen, dehnte ich oft die Freuden dieses Entrinnens bis tief in die Nachtstunden aus; während meine Schwester schlief, lehnte ich in meinem

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