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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mir ein paar Bücher, behandelte mich als ihresgleichen und erteilte mir Rat mit der ganzen Beflissenheit der Älteren. Ich war sehr von ihr eingenommen. Ich bewunderte sie nicht wie Zaza, und sie war zu ätherisch, um in mir wie Marguerite unklare Wünsche zu wecken. Aber ich fand sie romantisch; sie stellte mir ein anziehendes Bild des jungen Mädchens vor Augen, das ich morgen sein würde. Sie brachte uns zu unseren Eltern zurück; die Tür war noch nicht hinter ihr zugefallen, als eine Szene ausbrach: Wir hatten in Meulan eine Zahnbürste vergessen! Durch den Kontrast mit den heiteren Tagen, die ich eben durchlebt hatte, kam mir jetzt die grämlich gereizte Atmosphäre, in die ich zurückkehrte, vor, als ob man in ihr überhaupt nicht atmen könne. Den Kopf auf die Kommode im Vestibül gelehnt, brach ich in Schluchzen aus; meine Schwester tat das Gleiche. «Das ist wirklich reizend! Kaum sind sie zu Hause, da weinen sie auch schon», stellten meine Eltern indigniert fest. Ich gestand mir zum ersten Mal ein, wie schwer erträglich mir die Schreie, die Scheltworte, die tadelnden Bemerkungen waren, die ich gewöhnlich schweigend über mich ergehen ließ; alle Tränen, die ich seit Monaten zurückgedrängt hatte, brachen jetzt aus mir hervor. Ich weiß nicht, ob meine Mutter erriet, dass ich ihr innerlich zu entgleiten begann; aber ich reizte sie durch mein Verhalten, und sie wurde oft böse auf mich: Deswegen suchte ich in Clotilde eine tröstende große Schwester. Ich besuchte sie oft; ihre hübschen Toiletten, die raffinierte Ausstattung ihres Zimmers, ihre Liebenswürdigkeit und Selbständigkeit hatten es mir angetan; wenn sie mich in ein Konzert mitnahm, erlebte ich voller Bewunderung, dass sie ein Taxi mietete – in meinen Augen die Höhe der Großartigkeit – und mit Entschiedenheit auf dem Programm ihre Lieblingsstücke bezeichnete. Meine Beziehungen zu ihr setzten Zaza und mehr noch Clotildes Freundinnen in Erstaunen: Es war Brauch, dass man nur unter jungen Mädchen des gleichen Alters – höchstens mit einem Jahr Abstand – verkehrte. Eines Tages war ich bei Clotilde mit Lili Mabille und anderen ‹Großen› zum Tee eingeladen; ich fühlte mich fehl am Platz, und die Fadheit der Gespräche ödete mich an. Außerdem war Clotilde sehr fromm, sie konnte mir kaum als Führerin dienen, da ich ja nicht mehr glaubte. Ich nehme an, dass sie mich ihrerseits im Grunde doch zu jung fand, jedenfalls wurden unsere Begegnungen allmählich seltener, ich selbst drang auch weiter nicht darauf. Nach einigen Wochen hörten wir auf, uns zu sehen. Kurze Zeit darauf ging sie mit viel Sentimentalität eine ‹arrangierte› Ehe ein.
    Zu Beginn des neuen Schuljahrs wurde Großpapa krank. Mit all seinen Unternehmungen hatte er Schiffbruch erlitten. Sein Sohn hatte früher einmal das Modell einer Konservendose erdacht, die sich mit einem Zwei-Sou-Stück öffnen ließ: Großpapa wollte diese Erfindung verwenden, doch das Patent wurde ihm gestohlen; er strengte einen Prozess gegen seinen Rivalen an – und verlor ihn. In seinen Gesprächen kehrten unaufhörlich die beunruhigenden Worte ‹Schuldner›, ‹Wechsel›, ‹Hypotheken› wieder. Manchmal, wenn ich bei ihm zu Mittag aß, läutete es an der Eingangstür: Er legte den Finger auf die Lippen, und wir hielten den Atem an. Sein Gesicht war rotviolett geworden und der Blick darin wie erstarrt. Eines Nachmittags im Hause, als er aufstand und ausgehen wollte, fragte er nach seinem Regenschirm, konnte aber nur stammeln. Als ich ihn wiedersah, saß er unbeweglich, mit geschlossenen Augen, in einem Lehnstuhl; er konnte nur noch mit Mühe seinen Platz verändern und schlief fast den ganzen Tag. Von Zeit zu Zeit hob er die Lider. «Ich habe eine Idee», sagte er zu Großmama. «Eine gute Idee, wir werden sicher reich.» Schließlich war er völlig gelähmt und verließ sein Bett mit den großen gedrehten Säulen nicht mehr; sein Körper bedeckte sich mit Schwären, die abscheulich rochen. Großmama pflegte ihn und strickte den ganzen Tag über Kindersachen. Großpapa war immer für Katastrophen ausersehen gewesen; Großmama nahm ihr Los mit so viel Ergebenheit hin, und beide waren so alt, dass ihr Unglück mich kaum berührte.
    Ich arbeitete mit mehr Eifer als je. Die unmittelbar bevorstehenden Examen, die Hoffnung, bald Studentin zu sein, spornten mich mächtig an. Es war ein glückliches Jahr für mich. Mein Gesicht bekam festere Züge, mein Körper behinderte mich nicht

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