Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
allein sei, schlecht benähme:
sehr
schlecht sogar. Am Abend nach meiner Ankunft unternahmen wir beide noch einen Gang nach dem Essen über die ‹Promenade›, die an den Garten stieß. Wir setzten uns auf eine Steinbank und schwiegen, denn wir hatten einander nicht sehr viel zu sagen. Einen Augenblick dachte sie nach, dann sah sie mich neugierig an: «Genügt dir das wirklich, deine Studien?», fragte sie mich. «Bist du glücklich damit? Wünschst du dir nicht manchmal etwas anderes?» Ich schüttelte den Kopf. «Es genügt mir», sagte ich. Es stimmte; am Ende eines Schuljahres sah ich kaum weiter als bis zum nächsten und zu der Reifeprüfung, die ich erfolgreich ablegen wollte. Titite seufzte und versank wieder in bräutliche Träumereien, die ich a priori für etwas albern hielt trotz aller Sympathie, die ich für meine Cousine empfand. Am folgenden Tage traf Jacques ein, er hatte bestanden und strahlte vor Selbstgefälligkeit. Er ging mit mir auf den Tennisplatz, fragte mich, ob ich mit ihm ein paar Bälle wechseln wolle, schlug mich gründlich und entschuldigte sich unbefangen, dass er mich als ‹punchingball› benutzt habe. Ich interessierte ihn nicht besonders, das wusste ich. Ich hatte ihn mit Hochachtung von jungen Mädchen sprechen hören, die, während sie sich auf ihr Staatsexamen vorbereiteten, dennoch Tennis spielten, ausgingen und sich gut kleideten. Indessen glitt seine Nichtachtung an mir ab: Nicht einen Augenblick bedauerte ich meine Ungeschicklichkeit beim Spiel oder den mehr als einfachen Schnitt meines Kleides aus rosa Pongéseide. Ich war mehr wert als die sorglich behüteten Studentinnen, denen Jacques den Vorzug vor mir gab: Er würde es selbst gewiss eines Tages merken.
Ich kam jetzt aus dem unvorteilhaften Alter heraus; anstatt mit Bedauern auf meine Kindheit zurückzublicken, wendete ich mich der Zukunft zu; sie war noch fern genug, um mich nicht zu erschrecken, aber sie faszinierte mich schon. Dieser Sommer vor allen anderen berauschte mich mit seinem Glanz. Auf einem grauen Granitblock saß ich an den Ufern des Teiches, den ich im Vorjahr in La Grillère entdeckt hatte. Eine Mühle spiegelte sich in dem Wasser, über das die Wolken dahinzogen. Ich las die
Promenades archéologiques
von Gaston Boissier und malte mir aus, wie ich eines Tages auf dem Palatin spazieren gehen würde. Die Wolken auf dem Grunde des Teiches nahmen rosa Tönungen an: Ich stand auf und konnte mich doch noch nicht zum Aufbruch entschließen; ich lehnte mich an die Haselnusshecke, der Abendwind umschmeichelte die Spindelbäume, strich über mich hin, peitschte mich, und ich vertraute mich ganz seiner Süße und seiner Heftigkeit an. Die Haselnusssträucher erhoben raunend ihre Stimmen, und ich verstand ihr Orakel: Ich wurde erwartet, erwartet von mir selbst. Von Licht überströmt, die Welt zu Füßen wie ein großes vertrautes Tier, lächelte ich dem jungen Kinde zu, das morgen sterben und in neuer Glorie auferstehen würde: Kein Leben, kein Augenblick irgendeines Lebens hätte all die Verheißungen erfüllen können, mit denen ich damals mein gläubiges Herz betörte.
Ende September wurde ich mit meiner Schwester nach Meulan eingeladen, wo die Eltern ihrer besten Freundin ein Haus besaßen; Anne-Marie Gendron gehörte einer zahlreichen, wohlbegüterten und sehr harmonischen Familie an; nie gab es dort Streit, nie ein Erheben der Stimme, sondern immer nur Lächeln und Zuvorkommenheit; ich fand mich wieder in einem Paradies, an das ich keine Erinnerung mehr in mir bewahrt hatte. Die Söhne fuhren uns auf der Seine im Kahn spazieren; die älteste der Töchter, die zwanzig Jahre alt war, nahm uns in einem Taxi nach Vernon mit. Von da aus wanderten wir auf dem hohen Flussufer entlang; ich war sehr empfänglich für die Landschaft, aber mehr noch für Clotildes Anmut; sie forderte mich auf, am Abend in ihr Zimmer zu kommen, wo wir plauderten. Sie hatte ihr Abitur gemacht, sie las ein wenig und übte fleißig Klavier; sie sprach von ihrer Liebe zur Musik, von Madame Swetchine, von ihren Angehörigen. Ihr Sekretär war mit Andenken angefüllt: Briefbündeln, die von Bändern zusammengehalten wurden, Heften – zweifellos Tagebüchern –, Konzertprogrammen, Fotografien, einem Aquarell, das ihre Mutter ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es kam mir ungewöhnlich beneidenswert vor, eine Vergangenheit ganz für sich allein zu besitzen, fast so sehr, wie eine Persönlichkeit zu haben. Sie lieh
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