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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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konnte genug Latein, um sich mit fünfzehneinhalb Jahren zum ersten Abschnitt des Abituriums zu melden. Corneille und Racine fand sie zum Gähnen trostlos. «Literatur langweilt mich fürchterlich», sagte sie zu mir. – «Oh, sagen Sie das nur nicht!» – «Warum denn nicht, wenn es doch so ist?» Ihre Gegenwart erhellte das Düster des ‹Studiensaals›. Gewisse Dinge langweilten sie, andere hatte sie gern, in ihrem Leben gab es Vergnügungen, und man erriet, dass sie von der Zukunft etwas erwartete. Die Traurigkeit, die von meinen anderen Kameradinnen ausging, entströmte weniger ihrem trübseligen Äußeren als ihrer Resignation. Wenn sie das Abitur gemacht hätten, würden sie ein paar Geschichts- oder Literaturvorlesungen hören, die ‹École du Louvre› besuchen, sich beim Roten Kreuz betätigen, Porzellanmalerei, Batik, Buchbinderei treiben oder sich der Wohltätigkeit widmen. Von Zeit zu Zeit würde man sie zu einer
Carmen
-Aufführung oder zu einer Besichtigung des Invalidendoms führen, damit sie bei dieser Gelegenheit einem jungen Mann begegneten; mit ein wenig Glück würden sie es zu einer Heirat bringen. So lebte auch die älteste Tochter Mabille: Sie lernte kochen, tanzte, half ihrem Vater als Sekretärin und ihren Schwestern als Schneiderin. Ihre Mutter schleppte sie von einer Begegnung zur anderen. Zaza erzählte mir, eine ihrer Tanten bekenne sich zu der Theorie des ‹Coup de foudre› durch das Sakrament: In dem Augenblick, in dem die Verlobten vor dem Priester das ‹Ja› austauschen, das sie für immer vereint, senkt sich die Gnade auf sie herab, und sie lieben einander. Diese Anschauungen brachten Zaza in Wallung: Sie erklärte eines Tages, sie sehe keinen Unterschied zwischen einer Frau, die aus Vernunftgründen heirate, und einer Prostituierten; man habe sie gelehrt, eine Christin müsse ihren Körper respektieren, sie respektiere ihn aber nicht, wenn sie sich ohne Liebe aus Gründen der Konvenienz oder um des Geldes willen hingebe. Ihre Heftigkeit setzte mich in Erstaunen; man konnte meinen, sie fühle am eigenen Leib die Schmählichkeit solchen Schachers. Für mich stellte die Frage sich nicht. Ich würde meinen Lebensunterhalt verdienen und unabhängig sein. In Zazas Milieu jedoch musste man sich verheiraten oder ins Kloster gehen. «Das Zölibat», sagte man dort, «ist kein Beruf.» Sie begann sich vor der Zukunft zu fürchten; war das der Grund ihrer schlechten Nächte? Sie schlief nicht mehr gut; oft stand sie nachts auf und frottierte sich von Kopf bis Fuß mit Eau de Cologne; am Morgen schluckte sie, um sich aufzufrischen, eine Mischung aus Kaffee und Weißwein. Wenn sie mir von diesen Exzessen erzählte, wurde ich mir darüber klar, dass mir vieles in ihr entging. Doch ermutigte ich sie zum Widerstand, und sie wusste mir Dank dafür: Ich war ihre einzige Verbündete. Viele Abneigungen und ein großes Verlangen nach Glück waren uns beiden gemeinsam.
    Trotz unserer Verschiedenheit reagierten wir oft auf die gleiche Weise. Mein Vater hatte von einem Freund, der Schauspieler war, Freikarten für eine Nachmittagsvorstellung im Odéon erhalten; er schenkte sie Zaza und mir; es wurde ein Stück von Paul Fort,
Charles  VI
., gespielt. Als ich allein mit Zaza in der Loge saß, war ich außer mir vor Vergnügen. Dann wurde dreimal geklopft, und wir wohnten einem düsteren Schauspiel bei; Karl  VI . verlor den Verstand; am Ende des ersten Aktes irrte er hohläugig und verworren stammelnd auf der Bühne umher; ich verging vor einer Angst, die so einsam wie sein Irrsinn war. Ich sah von der Seite Zaza an, sie war totenblass. «Wenn das so weitergeht, verlassen wir das Theater», schlug ich vor. Sie stimmte zu. Als der Vorhang sich hob, versuchte Karl  VI . im Hemd sich aus den Händen maskierter, mit Kapuzen verkleideter Männer zu befreien. Wir gingen. Die Logenschließerin hielt uns an: «Weshalb gehen Sie denn?» – «Es ist zu grausig», antwortete ich. Sie lachte: «Aber, Kinderchen, das ist doch nicht wahr, es ist doch nur Theater.» Wir wussten es wohl, es war nicht wahr, aber wir hatten doch etwas Schauriges miterlebt.
    Mein Einvernehmen mit Zaza, ihre Schätzung für mich halfen mir, mich von den Erwachsenen frei zu machen und mit eigenen Augen zu sehen. Ein Vorfall erinnerte mich jedoch, wie sehr ich noch von ihrem Urteil abhängig war. Unerwartet kam es in einem Augenblick dazu, als ich gerade begann, mich etwas sorgloser zu fühlen.
    Wie jede Woche verfasste ich

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