Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
mehr; meine Geheimnisse lasteten weniger schwer auf mir. Ich hatte wieder Vertrauen zu mir selbst gewonnen; andererseits wurde Zaza eine andere; ich fragte mich nicht, wieso, aber sie, die immer ironisch gewesen war, wurde träumerisch. Sie begann Musset, Lacordaire, Chopin zu lieben. Sie tadelte noch den Pharisäergeist ihres Milieus, verdammte jedoch nicht mehr die ganze Menschheit. Mir gegenüber war sie jetzt weniger verschwenderisch mit Sarkasmen.
Im Cours Désir sonderten wir uns ab. Das Institut bereitete nur auf die geisteswissenschaftlichen Fächer vor. Herr Mabille wünschte, dass seine Tochter eine Ausbildung in den Naturwissenschaften erhielte. Mich selbst reizte stets das, wobei ich auf Widerstände stieß: Mathematik machte mir Vergnügen. Man ließ eine Fachlehrerin für uns kommen, die uns von der zweiten Klasse an Algebra, Trigonometrie und Physik beibrachte. Jung, lebhaft und tüchtig, verlor Mademoiselle Chassin keine Zeit mit moralischen Betrachtungen; es wurde ernsthaft gearbeitet. Sie hatte uns beide sehr gern. Wenn Zaza sich allzu lange in unsichtbaren Bereichen verlor, fragte sie sie in ihrer netten Art: «Wo sind Sie mit Ihren Gedanken, Elizabeth?» Zaza fuhr zusammen und lächelte. Außer uns nahmen an den Stunden nur noch Zwillinge teil, die immer Trauer trugen und fast nie ein Wort von sich gaben. Die Intimität des Unterrichts hatte für mich großen Reiz. Im Lateinischen hatten wir erreicht, dass wir eine Klasse überspringen und von der zweiten aus gleich am Unterricht der höheren teilnehmen durften: Der Wettbewerb mit den Schülerinnen dieses Oberkurses hielt mich gehörig in Atem. Als ich im Jahr meines Abiturs wieder bei meinen früheren Mitschülerinnen landete und nun der Reiz der Neuheit fehlte, kam mir das Wissen des Abbé Trécourt eher dürftig vor. Manchmal machte er Fehler; aber immerhin war dieser dicke Mann mit dem geröteten Gesicht aufgeschlossener und jovialer als die Damen, und wir hegten für ihn eine Sympathie, die er sichtlich erwiderte. Da unsere Eltern ganz erfreulich fanden, wenn wir uns auch auf die philologischen Fächer vorbereiteten, begannen wir Anfang Januar Italienisch zu lernen und konnten sehr schnell ‹Cuore› und ‹Le mie prigioni› entziffern. Zaza lernte Deutsch; dennoch nahm ich persönlich, da mein Englischlehrer nicht dem Orden angehörte und mir freundschaftlich gegenübertrat, lieber an dessen Kursen teil. Hingegen ertrugen wir nur mit Ungeduld die patriotischen Reden von Mademoiselle Gontran, unserer Geschichtslehrerin, und Mademoiselle Lejeune reizte uns durch die Enge ihrer literarischen Voreingenommenheiten. Um unsern Horizont zu erweitern, lasen wir viel und diskutierten lebhaft untereinander. Oft verteidigten wir im Unterricht hartnäckig unsere Gesichtspunkte; ich weiß nicht, ob Mademoiselle Lejeune scharfblickend genug war, um mich zu durchschauen, jedenfalls schien sie jetzt mir weit mehr zu misstrauen als Zaza.
Wir schlossen engere Freundschaft mit ein paar Kameradinnen, mit denen wir zusammenkamen, um Karten zu spielen und zu schwatzen; im Sommer trafen wir uns samstags vormittags auf einem Tennisplatz im Freien an der Rue Boulard. Aus keiner von ihnen machten weder Zaza noch ich uns sehr viel. Die großen Schülerinnen des Cours Désir hatten in der Tat nichts besonders Anziehendes. Da elf Jahre treuer Zugehörigkeit mir eine Goldmedaille eingetragen hatten, willigte mein Vater ohne große Begeisterung ein, bei der Preisverteilung zugegen zu sein; am Abend beklagte er sich darüber, dass er nur kleine Scheusale zu Gesicht bekommen habe. Manche von meinen Gefährtinnen hatten dabei ganz angenehme Züge; aber man zog uns ‹gut› an, indem man uns sonntäglich ausstaffierte; die Strenge der Haarfrisuren, die grellen oder süßlichen Farben der Atlas- und Taftkleider, die wir trugen, ließen unsere Gesichter unvorteilhaft blass erscheinen. Was meinem Vater besonders auffallen musste, war die trübselige, bedrückte Miene dieser jungen Wesen. Ich selbst war so sehr daran gewöhnt, dass ich große Augen machte, als ich bei uns eine Neue auftauchen sah, die noch unbefangen fröhlich zu lachen verstand. Sie war internationale Golfmeisterin und schon viel gereist; ihr kurz gehaltenes Haar, ihre gutgeschnittene Hemdbluse, ihr weiter, in tiefe Falten gelegter Rock, ihre sportliche Haltung und ihre unbefangene Stimme verrieten deutlich, dass sie weit weg von Saint-Thomas-d’Aquin aufgewachsen war; sie sprach vollendet Englisch und
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