Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
gewissenhaft die zunächst wörtliche Übersetzung eines lateinischen Textes und schrieb die beiden Versionen in zwei Kolonnen nebeneinander. Es handelte sich nun darum, die wörtliche Wiedergabe in ‹gutes Französisch› zu bringen. Es stellte sich heraus, dass der Text übersetzt in meinem Handbuch der lateinischen Literatur wiedergegeben war, und zwar mit einer Eleganz, die ich für unerreichbar hielt: Im Vergleich dazu kamen mir alle Wendungen, die mir selbst einfielen, beschämend ungeschickt vor. Ich hatte nicht falsch übersetzt und glaubte einer guten Note sicher zu sein, ich hatte keinerlei Berechnung angestellt, aber die Sache selbst, der Text, erhob bestimmte Ansprüche auf Vollkommenheit; es widerstrebte mir, an die Stelle des von dem Lehrbuch gebotenen idealen Vorbilds meine plumpen Erfindungen zu setzen. In der Folge davon schrieb ich das Gedruckte einfach ab.
Niemals wurden wir mit Abbé Trécourt allein gelassen: An einem kleinen Tisch am Fenster saß eine der Aufseherinnen und überwachte uns; bevor er uns unsere Arbeiten zurückgab, stellte sie die Noten in einem Register fest. Diese Funktion lag an jenem Tage Mademoiselle Dubois ob, der Dame mit Staatsexamen, bei der ich normalerweise im vorigen Jahr den Lateinkurs hätte absolvieren sollen, auf den Zaza und ich zugunsten des Abbés jedoch verzichtet hatten; sie hatte nicht viel für uns übrig. Ich hörte, wie sie in meinem Rücken unruhig wurde; sie stieß einen zwar gedämpften, aber empörten Ausruf aus. Schließlich schrieb sie ein Zettelchen, das sie auf den Stapel Hefte legte, bevor sie ihn dem Abbé hinüberreichte. Er putzte seinen Kneifer ab, las die Botschaft und lächelte: «Ja», erklärte er mit freundlichem Gleichmut, «diese Stelle aus Cicero steht übersetzt in Ihrem Handbuch, und viele von Ihnen haben es auch bemerkt. Ich habe die besseren Noten den Schülerinnen gegeben, die am meisten Originalität bewahrt haben.» Trotz der Nachsicht in seiner Stimme erfüllten mich doch Mademoiselle Dubois’ gereizte Miene und das besorgte Schweigen meiner Mitschülerinnen mit Schrecken. Sei es aus Gewohnheit, sei es aus Zerstreutheit, sei es aus Freundlichkeit, hatte Abbé Trécourt mich als Erste rangieren lassen: Ich erhielt eine Siebzehn. Niemand übrigens hatte weniger als eine Zwölf bekommen. Wahrscheinlich um seine Parteilichkeit zu rechtfertigen, rief er mich auf, damit ich den Text wortweise interpretierte; ich festigte meine Stimme und erledigte meine Aufgabe ohne Wank. Er gratulierte mir, und die Atmosphäre entspannte sich. Mademoiselle Dubois wagte nicht zu verlangen, dass ich laut meinen Text in ‹gutem Französisch› vorlas; Zaza, die neben mir saß, warf keinen Blick in mein Heft; sie war selbst gewissenhaft ehrlich und lehnte vermutlich ab, mich zu verdächtigen. Aber andere meiner Klassenkameradinnen tuschelten beim Verlassen des Unterrichts, und Mademoiselle Dubois nahm mich auf die Seite: Sie werde, sagte sie, Mademoiselle Lejeune von meiner Unredlichkeit in Kenntnis setzen. So wurde schließlich Wirklichkeit, was ich immer gefürchtet hatte: Eine in der Unschuld der Verborgenheit begangene Handlung gereichte mir zur Unehre, sobald sie offenbar geworden war. Ich hatte noch Respekt vor Mademoiselle Lejeune: Die Vorstellung, sie könne mich verachten, wirkte quälend auf mich. Aber es war unmöglich, das Geschehene ungeschehen zu machen: Ich war für immer gezeichnet! Ich hatte es ja geahnt: Die Wahrheit kann ungerecht sein. Den ganzen Abend und einen Teil der Nacht versuchte ich, aus der Falle wieder herauszukommen, in die ich kopflos geraten war und die mich nicht wieder freigab. Im Allgemeinen ging ich Schwierigkeiten durch Flucht, durch Schweigen, durch Vergessen aus dem Wege; selten ergriff ich die Initiative, aber dieses Mal entschloss ich mich zum Kampf. Um den äußeren Schein zu zerstreuen, der mich als schuldig brandmarkte, hieß es zur Lüge greifen: Also würde ich lügen. Ich suchte Mademoiselle Lejeune in ihrem Sprechzimmer auf und schwor ihr mit Tränen in den Augen, ich hätte nicht abgeschrieben, sondern in meinen französischen Text hätten sich nur unbewusste Reminiszenzen eingeschlichen. In meiner Überzeugung, nichts Böses getan zu haben, verteidigte ich mich mit dem Eifer vollendeter Redlichkeit. Doch mein Unterfangen war absurd: Wäre ich unschuldig gewesen, so hätte ich meinen Text als Beweisstück bei mir geführt; so begnügte ich mich, mein Wort zu geben. Die Direktorin glaubte mir nicht,
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