Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
sagte es mir auch und setzte ungeduldig hinzu, für sie sei die Sache erledigt. Sie hielt mir keine Moralpredigt und machte mir auch keine Vorwürfe; gerade diese Gleichgültigkeit aber sowie die Unfreundlichkeit ihres Tons offenbarten mir, dass sie nicht die geringste Zuneigung für mich empfand. Ich hatte gefürchtet, mein Vergehen werde mich bei ihr moralisch unmöglich machen; aber seit langem schon hatte ich nichts zu verlieren. Ich gewann meine Seelenruhe zurück. Sie verweigerte mir derart kategorisch ihre Achtung, dass diese mir nicht mehr erstrebenswert schien.
Während der Wochen, die der Abiturientenprüfung vorausgingen, lernte ich ungetrübte Freuden kennen. Es war schön, und meine Mutter erlaubte mir, im Luxembourggarten zu arbeiten. Ich ließ mich in dem englischen Teil nahe einem Rasenstück oder beim Medicibrunnen nieder. Ich trug noch die Haare auf den Rücken hinunterhängend in einem Netz, aber meine Cousine Annie, die mir oft ihre abgelegten Sachen überließ, hatte mir in diesem Sommer einen weißen Faltenrock und eine Bluse aus blauer Kretonne geschenkt; mit meinem Matrosenhut auf dem Kopf glaubte ich auszusehen wie ein erwachsenes junges Mädchen. Ich las Faguet, Brunetière, Jules Lemaître, ich atmete den Duft des Rasens ein und fühlte mich so frei wie die Studenten, die lässig durch den Garten bummelten. Ich verließ die Umzäunung und strich unter den Arkaden des Odéons umher; noch einmal erlebte ich die gleichen Entzückungen wie mit zehn Jahren in den Büchergängen der Bibliothèque Cardinale. Hier waren Reihen von gebundenen, mit Goldschnitt versehenen Büchern ausgelegt, die bereits aufgeschnitten waren; ich las im Stehen zwei oder drei Stunden lang, ohne dass je ein Verkäufer mich störte. Ich las Anatole France, die Brüder Goncourt, Colette und alles, was mir sonst noch in die Hände fiel. Ich sagte mir, dass, solange es Bücher gebe, das Glück mir sicher sei.
Ich hatte mir das Recht erwirkt, abends ziemlich lange aufzubleiben; nachdem Papa ins ‹Versailles› gegangen war, wo er fast jeden Abend Bridge spielte, und Mama und meine Schwester sich schlafen gelegt hatten, blieb ich allein im Arbeitszimmer zurück. Ich beugte mich aus dem Fenster; der Wind trug stoßweise den Duft von Laub zu mir herüber: In der Ferne sah man erleuchtete Fenster. Ich holte den Feldstecher meines Vaters hervor, zog ihn aus dem Etui und studierte wie früher mir unbekannte Existenzen; dass es ein eher banales Schauspiel war, machte mir nichts aus; ich war stets – und bin immer noch – empfänglich für den Reiz solch eines kleinen Schattentheaters, eines im Dunkel der Nacht hell erleuchteten Fensters. Mein Blick wanderte von einer Fassade zur anderen, und von der lauen Feuchte der Nacht bewegt, sagte ich mir: ‹Bald werde ich selbst richtig leben.›
Mit großem Vergnügen machte ich meine Examen. In den amphitheatralisch angelegten Hörsälen der Sorbonne saß ich dicht neben jungen Burschen und Mädchen, die sich in unbekannten Kursen und geistlichen Schulen oder auch in Lyzeen vorbereitet hatten: Ich entrann jetzt dem Cours Désir, ich sah mich der wirklichen Welt gegenüber. Da meine Lehrer mir die Versicherung gegeben hatten, meine schriftlichen Arbeiten seien gut gelungen, trat ich an das Mündliche mit so viel Vertrauen heran, dass ich mich sogar in meinem zu langen Kleid aus blauem Voile für eine anziehende Erscheinung hielt. Angesichts der bedeutenden Männer, die hier vereint waren, um mein Können abzuwägen, fand ich zu meiner Kindereitelkeit zurück. Der Examinator in Literatur besonders schmeichelte ihr, indem er mit mir im Konversationston sprach und mich fragte, ob ich eine Verwandte von Roger de Beauvoir sei: Ich entgegnete, dieser Name sei ein Pseudonym; er fragte mich nach Ronsard; während ich mein Wissen vor ihm ausbreitete, bewunderte ich dennoch das schöne Denkerhaupt, das sich mir entgegenneigte: Endlich sah ich von Angesicht zu Angesicht einen der hervorragenden Männer vor mir, an deren Billigung mir so sehr gelegen war! Bei den Philologieprüfungen jedoch empfing mich der Prüfende mit den ironischen Worten: «Ich sehe, Mademoiselle, Sie sammeln Diplome!» Verstört wurde ich mir plötzlich darüber klar, dass mein Vorgehen lächerlich erscheinen mochte; doch setzte ich mich darüber hinweg. Ich bestand mit ‹gut›, und die Damen, die befriedigt waren, diesen Erfolg auf ihre Ruhmestafeln einschreiben zu dürfen, gratulierten mir. Meine Eltern strahlten.
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