Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
vorgestellt wurde, die Fragen aufwarf und sie unmittelbar an mich richtete. Denn ich selbst, das Ich, von dem man mir bislang immer nur in allgemeinen Redensarten gesprochen hatte, war jetzt plötzlich in Aktion getreten. Woher kam mein Bewusstsein? Von woher erhielt es seine Macht? Das Standbild Condillacs zog mich jetzt in die gleichen unergründlichen Wirbel des Grübelns hinein wie der alte Rock damals, als ich sieben Jahre alt war. Ich sah auch mit Staunen, wie das Grundgerüst des Alls zu schwanken begann: Die Spekulationen Henri Poincarés über die Relativität des Raumes, der Zeit und des Maßes versenkten mich in tiefes Meditieren. Ich war ergriffen von den Seiten, auf denen er den Weg des Menschen durch das blinde Weltall beschreibt: Er fährt hindurch wie ein Blitz, doch wie ein Blitz, der alles ist! Das Bild dieses großen Feuerschweifes in der Finsternis ließ mich lange nicht los.
    An der Philosophie zog mich vor allem an, dass sie meiner Meinung nach unmittelbar auf das Wesentliche ging. Ich hatte mich nie für Einzelheiten interessiert; ich nahm den globalen Sinn der Dinge weit eher als ihre Besonderheiten in mich auf; ich begriff lieber, als dass ich sah: Immer hatte ich
alles
erkennen wollen: Die Philosophie würde mir möglich machen, dieses mein Verlangen zu erfüllen, denn die Gesamtheit des Wirklichen war das Ziel, das ich im Auge hatte; sie begab sich sofort ins Innerste der Dinge hinein und entdeckte mir anstelle einer trügerischen Wirrnis an Tatsachen oder empirischer Gesetzmäßigkeiten eine Ordnung, eine Vernunft, eine Notwendigkeit. Naturwissenschaften, Literatur, alle anderen Disziplinen kamen mir dagegen wie arme Verwandte vor.
    Im Laufe dieser kurzen Zeit jedoch lernten wir nicht eben viel. Doch entgingen wir der Langeweile durch das zähe Bemühen, das wir, Zaza und ich, an unsere Diskussionen wendeten. Eine besonders bewegte Debatte fand über die Liebe statt, die man platonisch nennt, sowie auch über die andere, die man gar nicht nennt. Eine unserer Schulkameradinnen hatte Tristan und Isolde unter die platonisch Liebenden eingereiht. Zaza brach in helles Lachen aus: «Platonisch! Tristan und Isolde! Haha, nein so etwas!», sagte sie mit einer wissenden Miene, die die ganze Klasse in Verwirrung setzte. Der Abbé schloss die Diskussion, indem er uns zur Vernunftheirat ermahnte: «Man heiratet nicht einen jungen Mann, weil einem seine Krawatte gefällt.» Wir sahen ihm diese törichte Bemerkung nach. Aber nicht immer waren wir derart gefällig; wenn ein Gegenstand uns interessierte, diskutierten wir leidenschaftlich. Wir respektierten viele Dinge, wir meinten, dass die Wörter Vaterland, Pflicht, Gut und Böse einen Sinn haben müssten; nur suchten wir nach ihrer Definition; wir hatten nicht vor, etwas zu zerstören, aber wir argumentierten gern. Das genügte, um uns des ‹schlechten Geistes› zu bezichtigen. Mademoiselle Lejeune, die allen unseren Unterrichtsstunden beiwohnte, erklärte, wir begäben uns da auf ein gefährliches Terrain. In der Mitte des Schuljahres nahm uns der Abbé auf die Seite und beschwor uns, nicht zu ‹verdorren›, sonst würden wir schließlich den ‹Damen› ähnlich werden: Sie seien zwar fromme Frauen, aber besser sei, nicht auf ihren Spuren zu wandeln. Ich war über seinen guten Willen gerührt, aber auch verwundert über die Verirrung seines Geistes: Ich versicherte ihm, dass ich bestimmt niemals in den Orden eintreten würde. Dieser flößte mir einen Abscheu ein, über den sogar Zaza sich wunderte: Ungeachtet aller ihrer Spöttereien bewahrte sie Zuneigung zu unseren Lehrerinnen, und ich schockierte sie nicht wenig, als ich behauptete, ich werde mich von ihnen ohne Bedauern trennen.
    Mein Leben als Schülerin ging seinem Ende entgegen, etwas anderes begann: was eigentlich? In den
Annales
las ich den Abdruck eines Vortrags, der mir zu denken gab; eine ehemalige Schülerin der ‹École Normale de Sèvres› frischte darin ihre Erinnerungen auf; sie beschrieb Gärten, in denen schöne, wissensdurstige junge Mädchen im Mondschein spazieren gingen: Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Geplätscher der Springbrunnen. Meine Mutter aber hegte ein Misstrauen gegen Sèvres, und nach reiflicher Überlegung hatte auch ich selbst keine Lust, außerhalb von Paris nur mit Frauen in einer Art Klausur zu leben. Wofür jedoch sollte ich mich entscheiden? Ich fürchtete mich vor dem gewissen Maß an Willkür, das jede Wahl in sich schließt. Mein Vater, der

Weitere Kostenlose Bücher