Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Sitzplätze schon vergeben waren, mussten wir im Gang stehen. Mit Staunen spürte ich, wie Hände mich durch meinen Wollmantel hindurch abtasteten; ich glaubte zunächst, jemand wolle mir meine Handtasche stehlen, und klemmte sie fester unter den Arm; die Hände fuhren fort, mich in absurder Weise zu kneten. Ich wusste nicht, was sagen oder tun, rührte mich aber jedenfalls nicht. Als der Film zu Ende war, zeigte ein Mann mit braunem Hut mich lachend einem Freund, der ebenfalls zu lachen begann. Sie machten sich über mich lustig: weshalb? Ich hatte keine Ahnung.
Etwas später hatte mich jemand – ich weiß nicht mehr, wer – gebeten, in einer frommen Buchhandlung in der Nähe von Saint-Sulpice ein Stück für eine Aufführung zu einem Patronatsfest zu besorgen. Ein blonder, schüchterner, mit einem langen schwarzen Kittel bekleideter Angestellter erkundigte sich höflich nach meinen Wünschen. Er ging in den Hintergrund des Ladens und machte mir ein Zeichen, dass ich ihm folgen solle: Als ich nahe bei ihm stand, schlug er seinen Kittel auseinander und deckte dabei etwas Rosiges auf; sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos; einen Augenblick lang war ich nur verdutzt; dann aber machte ich kehrt und lief schnell davon. Seine schamlose Geste verstörte mich weniger als die Wahnsinnsszene des falschen Karl VI . im Odéontheater, aber ich behielt doch den Eindruck davon, dass unvermutet seltsame Dinge sich ereignen könnten. Wenn ich mich mit einem unbekannten Mann – in einem Laden oder auf dem Bahnsteig der Metro – allein befand, wurde ich von Angst gepackt.
Zu Beginn meines vorletzten Schuljahrs überredete Madame Mabille Mama, mich Tanzstunden nehmen zu lassen. Einmal in der Woche traf ich mit Zaza in einem Salon zusammen, in dem sich Mädchen und Burschen darin übten, unter Anleitung einer reiferen Dame sich im Takt zu bewegen. Ich legte für diese Tage ein blaues Kleid aus Seidenjersey an, das meine Cousine Annie mir vermacht hatte und das sich schlecht und recht meiner Gestalt anpasste. Pudern und Schminken war mir untersagt. In der Familie übertrat einzig meine Cousine Madeleine dieses Verbot. Als sie etwa sechzehn war, hatte sie angefangen, sich kokett herzurichten. Papa, Mama und Tante Marguerite wiesen mit dem Finger auf sie: «Du hast dich gepudert, Madeleine!» – «Aber nein, Tante, ganz bestimmt nicht!», antwortete sie etwas lispelnd. Ich lachte mit den Erwachsenen: Alles, was künstlich war, war immer ‹lächerlich›. Jeden Morgen ging es von neuem los: «Widersprich nicht, Madeleine, du hast Puder aufgelegt, man sieht es ja.» Eines Tages – sie war damals achtzehn oder neunzehn Jahre alt – verlor sie die Nerven und antwortete: «Und wennschon, warum denn nicht?» Sie hatte gestanden, alles triumphierte. Mir aber hatte ihre Antwort eher zu denken gegeben. Auf alle Fälle lebten wir ja sehr weit von der Natur entfernt. In der Familie wurde behauptet: «Schminke verdirbt den Teint.» Wir beide aber, meine Schwester und ich, sagten uns, wenn wir die knittrige Haut unserer Tanten betrachteten, dass ihre Vorsicht sich schlecht bezahlt gemacht habe. Indessen versuchte ich nicht, weiter zu diskutieren. Ich erschien also zu den Tanzstunden schlecht angezogen, mit stumpfem Haar, glänzenden Wangen und blanker Nasenspitze. Ich wusste mit meinem Körper nichts anzufangen, nicht einmal Schwimmen oder Radfahren hatte ich gelernt; ich kam mir ebenso unbeholfen vor wie an dem Tage, an dem ich mich als Spanierin den Blicken präsentieren musste. Aber aus einem anderen Grunde fasste ich eine Abneigung gegen diese Stunden. Wenn mein Tanzherr mich in den Arm nahm und an seine Brust drückte, hatte ich ein bizarres Gefühl, das einem Ziehen im Magen glich, doch länger spürbar blieb. Kam ich dann nach Hause, warf ich mich in den Ledersessel, benommen von einer Schlaffheit, die keinen Namen hatte und die mich fast bis zu Tränen verdross. Ich benutzte meine Arbeit als Vorwand, um nicht mehr hinzugehen.
Zaza war gewitzter als ich. «Wenn ich denke, dass unsere Mütter, diese harmlosen Gemüter, uns in aller Seelenruhe tanzen sehen», sagte sie einmal zu mir. Ihrer Schwester Lili und unseren großen Cousinen hielt sie neckend vor: «Ach, geht! Ihr werdet mir doch nicht erzählen wollen, dass ihr euch ebenso gut amüsieren würdet, wenn wir untereinander oder mit unseren Brüdern tanzten.» Ich glaubte, dass sie das Vergnügen des Tanzes mit dem für mich äußerst vagen des Flirts in Verbindung
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