Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
bringe. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich, noch unwissend, Lust und Liebkosung schon vorausgeahnt: Mit siebzehn Jahren wusste ich, wiewohl theoretisch aufgeklärt, nicht einmal die Regungen meines Körpers zu deuten.
Ich weiß nicht, ob diese Naivität vielleicht auch etwas auf Selbstbetrug beruhte, jedenfalls erschreckte mich alles, was das sexuelle Leben betraf. Eine einzige Person, Titite, hatte mir eine Ahnung davon vermittelt, dass physische Liebe ganz natürlich und mit Freuden erlebt werden kann; ihr üppiger Körper kannte keine Scham, und wenn sie von ihrer Hochzeit sprach, wurde sie durch das Verlangen verschönt, das in ihren Augen aufleuchtete. Tante Simone machte Andeutungen, sie sei mit ihrem Verlobten ‹zu weit› gegangen; Mama nahm sie in Schutz; ich selbst hielt diese Debatte für müßig; ob verheiratet oder nicht, die mögliche Umarmung dieser beiden schönen Wesen schockierte mich keineswegs: Sie liebten sich ja. Doch genügte diese eine Erfahrung nicht, um die um mich aufgerichteten Tabus einfach fortzuräumen. Niemals hatte ich – seit Villers – einen Fuß an einen Badestrand, in ein Schwimmbad oder in einen Gymnastiksaal gesetzt, sodass Nacktheit für mich mit Indezenz gleichbedeutend war; außerdem aber durchbrach auch in dem Milieu, in dem ich lebte, niemals das offene Bekenntnis zu einem Bedürfnis oder einer einfach nicht unterdrückbaren Handlung das Netz der Konventionen und eingefahrenen Gewohnheiten. Wie sollte man sich bei diesen körperlosen Erwachsenen, die immer nur maßvolle Worte und Gebärden miteinander tauschten, die animalische Rohheit des Instinktes, der Lust vorstellen? Im Laufe meines Obersekundajahres teilte Marguerite de Théricourt Mademoiselle Lejeune ihre bevorstehende Vermählung mit; sie heiratete einen Sozius ihres Vaters, der reich, adlig und sehr viel älter war als sie und den sie bereits seit ihrer Kindheit kannte. Alle gratulierten ihr, sie strahlte von unschuldsvollem Glück. Das Wort ‹Heirat› aber verursachte eine Art von Explosion in meinem Kopf; ich war so überwältigt von der Vorstellung wie eines Tages, als eine Schulkameradin mitten im Unterricht zu bellen angefangen hatte. Wie sollte man sich unter dieser ernsthaften, behandschuhten, hutgeschmückten jungen Dame mit dem einstudierten Lächeln einen rosigen, zärtlichen Körper denken, der in den Armen eines Mannes dahinschmolz? Ich ging nicht so weit, Marguerite sozusagen auszuziehen, aber unter ihrem langen Hemd und dem lang herabwallenden Haar würde sie eben doch ihren Leib darbieten! Dieses unvermittelte Ablegen jeden Schamgefühls kam mir wie Wahnsinn vor. Entweder war die Sexualität ein kurzer Anfall von Sinnesstörung, oder Marguerite war eben doch nicht mit der wohlerzogenen jungen Dame identisch, die überallhin von einer Gouvernante begleitet wurde: Der Schein trog, die Welt, die man mir als die wirkliche hingestellt hatte, war nur eine künstliche Konstruktion. Ich neigte zu dieser Hypothese, aber zu lange bereits war ich der Täuschung erlegen: Die Illusion hielt dem Zweifel stand. Die wahre Marguerite trug für mich auch weiterhin beharrlich Handschuhe und Hut. Wenn ich sie mir halb entschleiert dem Blick eines Mannes ausgesetzt vorstellte, fühlte ich mich wie von einem Sturmwind davongetragen, der alle Normen der Moral und der Vernunft über den Haufen warf und zu nichts zerstäubte.
Ende Juli reiste ich in die Ferien. Dort tat sich mir ein neuer Aspekt des Sexuallebens auf, durch den es mir weder als eine ruhige Freude der Sinne noch als beunruhigende Verirrung erschien, vielmehr nur als ein übermütiger Spaß.
Mein Onkel Maurice war, nachdem er sich zwei oder drei Jahre lang ausschließlich von Salat ernährt hatte, unter schrecklichen Leiden an Magenkrebs gestorben. Meine Tante und Madeleine hatten ihn lange beweint. Doch als sie sich getröstet hatten, wurde das Leben in La Grillère sehr viel lustiger als in der Vergangenheit. Robert konnte jetzt ungehemmt seine Freunde einladen. Die Söhne der Landbesitzer des Limousin hatten soeben das Automobil entdeckt und trafen auf fünfzig Kilometer im Umkreis zusammen, um gemeinsam zu jagen oder zu tanzen. In diesem Jahr machte Robert einer jungen Schönheit von ungefähr fünfundzwanzig Jahren den Hof, die ihre Ferien in einem benachbarten ländlichen Ort in der offenbaren Absicht verbrachte, einen Mann zu finden; fast jedes Jahr kam Yvonne nach La Grillère; sie führte eine reichhaltige Garderobe, üppiges Haar und
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