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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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mich, weil ich es ungewollt über mich hatte ergehen lassen; ich wollte nicht zugestehen, dass durch eine bloße Berührung, einen Druck oder eine Umarmung der erste Beste einen zum Straucheln bringen konnte. Ein Tag würde kommen, an dem ich selber in den Armen eines Mannes die Lust kennenlernen würde: Ich wollte meine Stunde wählen, und meine Entscheidung sollte durch die Heftigkeit meiner Liebe gerechtfertigt sein. Zu diesem rationalistischen Hochmut traten noch durch meine Erziehung geschaffene Stilisierungen hinzu. Ich hatte diese unbefleckte Hostie, meine Seele, geliebt; in meiner Erinnerung spielten noch Bilder wie besudelter Hermelin oder entweihte Lilie eine Rolle; wenn die Lust nicht durch das Feuer der Leidenschaft reingeglüht war, blieb sie etwas Beschmutzendes. Zudem neigte ich zu Extremen: Ich wollte alles oder nichts. Wenn ich liebte, würde es fürs Leben sein, ich würde ganz und gar, mit Körper, Herz, Kopf und Vergangenheit, in meiner Neigung aufgehen. Ich lehnte es ab, Emotionen, meinem Vorsatz nicht dienende Formen der Lust im Einzelnen zu verzetteln. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich nie Gelegenheit, diese Prinzipien auf die Probe zu stellen, denn kein Verführer versuchte je, sie ins Wanken zu bringen.
    Mein Verhalten richtete sich nach der in meinen Kreisen geltenden Moral; dennoch nahm ich diese nicht ohne wichtige Einschränkung hin; ich wollte die Männer dem gleichen Gesetz unterstellt sehen wie die Frauen. Tante Germaine hatte in verhüllten Worten meinen Eltern gegenüber ihr Bedauern ausgedrückt, dass ihr Sohn Jacques allzu zahm sei. Mein Vater, die meisten Schriftsteller und der allgemeine Konsens der Gesellschaft ermunterten die jungen Leute, sich die Hörner abzulaufen. Im gegebenen Moment würden sie dann ein junges Mädchen ihres Milieus heiraten; inzwischen aber fand man in der Ordnung, dass sie sich mit Mädchen von geringem Stand amüsierten, ob es nun Loretten, Grisetten, Midinetten oder Cousetten waren. Dieser Brauch widerte mich an. Oft war mir gesagt worden, die unteren Stände hätten keine Moral; das ungehörige Verhalten einer Wäscherin oder eines Blumenmädchens kam mir demgemäß so natürlich vor, dass ich deswegen nicht in Wallung geriet; ich hatte Sympathie für diese besitzlosen jungen Frauen, die die Romanschriftsteller gern mit den rührendsten Vorzügen ausstatteten. Indessen war ihre Liebe von vornherein dem Untergang geweiht; eines Tages, je nach Laune oder Gelegenheit, würde ihr Liebhaber sie um einer jungen Dame willen versetzen. Ich war demokratisch und romantisch zugleich: Ich fand es empörend, dass ein Mann, weil er ein Mann war und Geld hatte, berechtigt sein sollte, mit einem Herzen zu spielen. Andererseits lehnte ich mich dagegen auch im Namen der Braut in ihrer Unschuldsweiße auf, mit der ich mich identifizierte. Ich sah keinen einzigen Grund, weshalb ich meinem Partner Rechte zuerkennen sollte, die ich für mich selbst nicht in Anspruch nahm. Unsere Liebe würde nur zwingend und alles umfassend sein, wenn er sich ebenso für mich aufbewahrte, wie ich bereit war, es für ihn zu tun. Zudem musste unbedingt das sexuelle Leben seinem Wesen nach und demnach für alle eine ernste Angelegenheit sein, denn sonst hätte ich meine eigene Haltung revidieren müssen, und da ich im Augenblick außerstande war, etwas an ihr zu ändern, hätte mich das in die größte Verlegenheit gebracht. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung versteifte ich mich also darauf, für beide Geschlechter gleiche Keuschheit zu fordern.
     
    Ende September verbrachte ich eine Woche bei einer Klassenkameradin. Zaza hatte mich mehrmals nach Laubardon eingeladen; die Schwierigkeiten der Reise, mein zartes Alter hatten dieses Projekt immer zum Scheitern gebracht. Jetzt war ich siebzehn Jahre alt, und Mama willigte ein, mich in einen Zug zu setzen, der mich direkt von Paris nach Joigny bringen würde, wo meine Gastgeber mich abzuholen gedachten. Es war das erste Mal, dass ich allein eine Reise unternahm; ich hatte mein Haar hochgesteckt, ich trug einen kleinen grauen Filzhut, ich war stolz auf meine Freiheit und leicht beunruhigt zugleich: Auf den Stationen spähte ich nach den Reisenden aus; ich hätte mich nicht gern allein mit einem Unbekannten in ein Abteil eingeschlossen gesehen. Thérèse erwartete mich auf dem Bahnsteig. Sie war ein melancholisches, vaterloses junges Mädchen, das eine ganz der Trauer geweihte Existenz zwischen ihrer Mutter und einem halben Dutzend älterer

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