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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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ein so beständiges Lächeln ins Feld, dass ich niemals habe entscheiden können, ob sie taub, ob sie idiotisch war. Eines Nachmittags setzte sich ihre Mutter in dem von Schutzbezügen befreiten Salon ans Klavier, und im Gewand einer Andalusierin, mit Fächer und Augendeckeln klappend, führte Yvonne inmitten eines Kreises mokant grinsender junger Leute spanische Tänze vor. Aus Anlass dieses Idylls fanden immer mehr ‹Partys› in La Grillère und Umgegend statt. Ich amüsierte mich herrlich dabei. Unsere Eltern mischten sich nicht ein: Man konnte ungehemmt lachen und sich bewegen. Zwischen Polonaisen, Reigen und der ‹Reise nach Jerusalem› wurde der Tanz ein Gesellschaftsspiel unter anderen und befremdete mich nicht mehr. Ich fand sogar einen meiner Tänzer, der gerade sein Medizinstudium beendete, recht hübsch. Eines Tages blieben wir auf einem benachbarten Landsitz bis in die frühen Morgenstunden zusammen; eine Zwiebelsuppe wurde in der Küche gemeinsam hergestellt: Wir fuhren im Auto bis an den Fuß des Mont Gargan und bestiegen ihn, um den Sonnenaufgang zu genießen: In einem Gasthaus tranken wir unseren Morgenkaffee; es war meine erste durchtollte Nacht. In einem meiner Briefe erzählte ich Zaza von diesen Extravaganzen; sie schien etwas schockiert, dass ich so großes Vergnügen daran fand und dass Mama dergleichen duldete. Weder meine Tugend noch die meiner Schwester waren übrigens in Gefahr; wir hießen ‹die beiden Kleinen›; da wir offenbar noch zu ungewitzt waren, war der ‹Sex-Appeal› nicht unsere starke Seite. Indessen wimmelten die Gespräche von Anspielungen und Zweideutigkeiten, deren Unverblümtheit mir oft peinlich war. Madeleine vertraute mir an, dass sich abends in den Bosketten, den Autos alles Mögliche zutrug. Die jungen Mädchen nahmen sich nur so weit in Acht, dass sie eben noch junge Mädchen blieben. Yvonne hatte diese Vorsichtsmaßnahme missachtet, die Freunde Roberts, die sich abwechselnd mit ihr amüsiert hatten, waren so aufmerksam, meinen Vetter davon in Kenntnis zu setzen, und die Heirat zerschlug sich. Die andern Mädchen kannten die Spielregeln und respektierten sie; diese Vorsicht beraubte sie jedoch nicht angenehmer kleiner Vergnügungen. Zweifellos gingen diese über das Maß des Erlaubten hinaus: Diejenigen, die zu Gewissensskrupeln neigten, liefen am nächsten Tag zur Beichte und kehrten mit befreiter Seele zurück. Ich hätte gern gewusst, durch welchen Mechanismus die Berührung zweier Münder Lust erzeugt: Oft, wenn ich die Lippen eines Burschen oder eines Mädchens betrachtete, verspürte ich das gleiche Staunen wie einst angesichts der Metro oder eines gefährlichen Buches. Die Belehrung durch Madeleine hatte stets etwas Bizarres; sie erklärte mir, die Lust hänge von den Neigungen jedes Einzelnen ab: Ihre Freundin Nini verlange, dass ihr Partner ihr die Fußsohlen küsste oder kitzelte. Voller Neugier, aber doch mit einem Gefühl des Unbehagens fragte ich mich, ob mein eigener Körper auch verborgene Quellen enthielte, aus denen eines Tages ungeahnte Empfindungen hervorbrechen würden.
    Um nichts in der Welt hätte ich mich zu dem bescheidensten Versuch auf diesem Gebiete hergegeben. Die Sitten, die Madeleine mir beschrieb, fand ich durchaus empörend. Die Liebe, so wie ich sie sah, bezog den Körper kaum in ihre Bereiche mit ein; dennoch lehnte ich ab, dass der Körper Befriedigung für sich ohne Liebe suchte. Ich trieb die Intransigenz nicht so weit wie Antoine Redier, der Herausgeber der
Revue française
, an der mein Vater arbeitete: In einem Roman hatte er das rührende Porträt eines ‹wirklichen› jungen Mädchens gezeichnet: Sie hatte einmal einem jungen Mann erlaubt, ihr einen Kuss zu rauben; ehe sie aber diese Schmach ihrem Verlobten eingestand, entsagte sie ihm lieber. Ich fand die Geschichte einfach grotesk. Als aber eine meiner Kameradinnen, die Tochter eines Generals, mir nicht ohne Melancholie in der Stimme erzählte, dass bei jedem ihrer Ausgänge mindestens einer ihrer Tänzer sie küsste, fand ich tadelnde Worte für sie, dass sie sich darauf einließ. Es schien mir traurig, unangemessen und schließlich sogar unrecht, einem Gleichgültigen die Lippen darzubieten. Einer der Gründe meiner Prüderie lag zweifellos in der mit Grauen gemischten Abneigung, die ein Mann gemeinhin Jungfrauen einflößt; ich fürchtete vor allem meine eigenen Sinne und ihre möglichen Launen: Das Unbehagen, das ich in der Tanzstunde verspürt hatte, ärgerte

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