Memoria
tausendmal gehört. Ich hatte nie weiter darüber nachgedacht. Bis jetzt. Aber wenn es so war, wenn ich diese Sache richtig durchschaut hatte, bedeutete das, diese Gangster waren in erster Linie darauf aus, mich in ihre Gewalt zu bringen. Ich war sozusagen ihre goldene Gans.
Und diesen Umstand konnte ich nutzen.
Kapitel 46
Der sichere Unterschlupf war ein Haus im Ranch-Stil mit drei Schlafzimmern hoch am Hang in El Cerrito. Es war im Wesentlichen so, wie ich es erwartet hatte. Mit viel gutem Willen hätte man es als minimalistisch, klassisch oder funktional beschreiben können, ich hätte eher von Knast- oder Baumarktstil gesprochen. Nicht dass ich mit einem Luxusquartier gerechnet hätte, aber es tat mir für Tess und Alex leid, erst recht da ich nicht wusste, für wie lange wir sie hier versteckt halten mussten. Es war einfach eine trostlose Unterbringung.
Immerhin, das Wohnzimmer lag nach Westen hinaus und bot eine ganz nette Aussicht auf die Skyline der Stadt und auf das Meer dahinter, vor allem jetzt, da die Sonne gerade am Horizont unterging. Bewohner, die aus anderen Gründen hier wären als wir, hätten den Anblick wahrscheinlich genießen können. Ich nicht. Ich stand einfach nur da, allein, und sah düster zu, wie ein weiterer Tag zu Ende ging. Ich dachte an Mexiko, an Michelle und daran, dass ich damals mit dem Finger am Abzug irgendwie eine Ereigniskette in Gang gesetzt hatte, die jetzt, fünf Jahre später, dazu geführt hatte, dass eine andere Waffe gegen sie abgefeuert wurde.
«Hübsche Aussicht.»
Tess trat neben mich, schaute hinaus und strich mir leicht über den Rücken, dann legte sie den Arm um meine Taille.
«Du weißt doch, für meine Liebste ist mir das Beste gerade gut genug.»
Sie grinste. «Ihr verwöhnt mich, guter Herr.»
Ich warf einen Blick über die Schulter. Aus der Küche drangen die leisen Stimmen von Jules und dem neuen Aufpasser, Cal Matsuoka.
«Wie geht’s Alex?»
«Nicht so gut. Er ist noch ziemlich aufgewühlt wegen des Vorfalls vorhin.» Tess klang niedergeschlagen. «Und der Umzug hierher macht ihm auch zu schaffen.» Sie schaute sich um. «Ich weiß nicht mehr, was ich ihm erzählen soll.»
Ich nickte. «Wir werden einen Ausweg finden.»
Sie zuckte die Schultern und wandte sich wieder dem Fenster zu. Ihre Augen wirkten glanzlos, und sie konnte nicht verbergen, wie Frustration und Unbehagen sie niederdrückten.
«Was wird sein, wenn ihr diese Kerle gefasst habt, die Männer, die die Biker und den Deputy erschossen haben? Was dann? Woher wissen wir, dass ihr Auftraggeber nicht einfach andere auf uns ansetzt?» Tess drehte sich zu mir um. Sie sah richtig eingeschüchtert aus. «Wie können wir jemals sicher sein, dass der ganze Spuk ein Ende hat?»
Das war der Moment, ihr tief in die Augen zu schauen und der Held zu sein, der beruhigende Worte voller Gewissheit spricht wie
Keine Angst, wir werden sie zur Strecke bringen.
Aber das hätte Tess mir ohnehin nicht abgenommen, ihr war klar, dass die Wirklichkeit anders aussah. Allerdings muss ich sagen – als ich da so neben ihr stand, konnte ich mir nicht vorstellen, diese Kerle nicht zur Strecke zu bringen. Ich würde dafür sorgen, dass sie für immer aus unserem Leben verschwanden. Also sagte ich tatsächlich: «Wir werden sie zur Strecke bringen. Sie und ihre Hintermänner.» Und zu Tess’ Ehre sei gesagt, dass sie nicht verächtlich schnaubte, sie ließ sich nicht einmal Skepsis anmerken. Sie nickte nur, und ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.
Dann blickte sie wieder hinaus auf den Sonnenuntergang.
«Erzähl mir, was geschehen ist», sagte sie. «Der Mann, den du erschossen hast, dieser Wissenschaftler … Erzähl mir davon.»
Ich erklärte ihr kurz die Verbindung zwischen den Eagles und Navarro und – in ganz groben Zügen – welchen Bezug das alles zu dem Einsatz in Mexiko hatte. Ich hatte ihr noch nie davon erzählt, ebenso wenig wie damals Michelle. Auch diesmal ging ich nicht ins Detail, weil ich nicht wollte, dass sie die ganze Wahrheit erfuhr.
«Rede mit mir, Sean», drängte Tess, die meine Zurückhaltung spürte. «Erzähl mir, was passiert ist.»
In diesem Moment war es, als würde in mir ein Schalter umgelegt, und ich beschloss, nicht denselben Fehler zu machen wie bei Michelle. Ich hätte es ihr damals erzählen sollen, und auch Tess hätte ich es schon längst erzählen sollen.
Mein Blick wanderte zum Horizont, wo der letzte goldene Streifen der Sonne gerade ins Meer
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