Memoria
eintauchte, und wieder einmal liefen die Ereignisse von damals vor meinem inneren Auge ab, als sei das alles gestern gewesen. Allerdings kann das Gedächtnis täuschen. Manchmal glaubt man, sich an etwas ganz klar und lebhaft zu erinnern, und in Wirklichkeit sind die Erinnerungen gar nicht so genau. Mit der Zeit formt der Geist die Wahrheit um, verzerrt und passt an oder fügt Kleinigkeiten hinzu, sodass am Ende schwer zu unterscheiden ist, was wirklich geschehen ist und was nicht. Aber in diesem Fall glaubte ich tatsächlich, glasklare Erinnerungen zu haben.
Ohne sie wäre ich glücklicher gewesen.
Es war nicht leicht, zu ihm zu gelangen.
Navarros Labor lag irgendwo im Nirgendwo, hoch oben in der gesetzlosen, unzugänglichen Sierra Madre Occidental, einer hohen Kette vulkanischer Berge, die von tiefen Schluchten und Klüften durchzogen war und von Canyons, die
barrancas
genannt wurden und von denen manche tiefer waren als der Grand Canyon. Weder den Herrschern der Azteken noch den spanischen Eroberern war es je gelungen, die kriegerischen, sich mit aller Gewalt widersetzenden Eingeborenen in ihren Dörfern in den Falten der Sierra unter ihre Herrschaft zu bringen, und die mexikanische Regierung war auch nicht erfolgreicher gewesen. Die Berge mit ihren üppigen Hanf- und Mohnfeldern wurden von regionalen Machthabern und untereinander verfeindeten Drogenmafias kontrolliert. Wie schon vor hundert und mehr Jahren zogen noch heute Banden bewaffneter Banditen und Gesetzloser auf Pferden und Maultieren durch die Wildnis. Navarro hatte den Ort für sein Unternehmen geschickt gewählt.
Wir hatten nicht viele Anhaltspunkte. McKinnons Position war bestimmt worden, indem während seines Anrufs das Handysignal geortet wurde. Anschließend war der Einsatz in aller Eile geplant worden, und damit nicht etwa korrupte Mitarbeiter mexikanischer Behörden Wind davon bekamen und Navarro warnten, beschafften wir uns die nötigen Informationen selbst mit Hilfe einer Predator-Drohne der Air Force, ohne die Regierungsorgane vor Ort einzuschalten.
Der Plan sah vor, dass wir mit dem Hubschrauber eingeflo
gen wurden, aber die Landschaft um das Zielobjekt herum war dazu alles andere als geeignet. Die Anlage war auf einem hohen Tafelberg errichtet, und die Umgebung war zu unwirtlich und unzugänglich für einen Vormarsch am Boden. Aufgrund der hohen Lage mit ungehindertem Ausblick nach allen Seiten war außerdem die Gefahr groß, dass ein herannahender Hubschrauber bemerkt wurde. So landeten wir schließlich rund drei Meilen entfernt und legten die übrige Strecke zu Fuß zurück. In schwierigem Gelände, wo es, wie wir wussten, Skorpione, Klapperschlangen, Berglöwen, Bären und zu allem Übel auch noch
onzas
gab, unheimliche mythische, Puma-ähnliche mutierte Wesen
.
Also der reinste Sonntagsspaziergang.
Wir landeten etwa drei Stunden vor Sonnenaufgang, so blieb uns genügend Zeit, im Schutz der Dunkelheit das Labor zu erreichen, McKinnon herauszuholen und bis zur Morgendämmerung wieder beim Hubschrauber zu sein. Schnell und geschmeidig überwanden wir steile Felshänge und tosende Bäche, schlugen uns durch Kiefernwälder und Eichendickichte, zwischen Wacholder und Kakteen hindurch. Wir waren zu acht: ich, Munro, zwei Männer von der Kampftruppe der
DEA und vier Soldaten von den Special Forces. Uns war klar, dass das Gelände scharf bewacht wurde, deshalb waren wir entsprechend ausgerüstet: Heckler & Koch Maschinenpistolen mit Schalldämpfer, ebenfalls schallgedämpfte Glocks, Bowiemesser, Körperpanzerung, Nachtsichtbrillen. Außerdem trugen wir am Kopf kleine Videokameras, deren Aufnahmen live an die
DEA -Dienststelle in der Botschaft in Mexiko-Stadt übertragen wurden. Und eine Predator-Drohne lieferte uns über die Steuerzentrale auf der Peterson Air Force Base in Colorado ebenfalls Livebilder. Natürlich sah der Plan keinen offenen Angriff vor. Wir sollten unbemerkt in das Labor eindrin
gen und unseren Mann herausholen, ehe uns überhaupt jemand entdeckte.
Doch es kam anders.
Munro und mir gelang es ohne größere Schwierigkeiten, an den verschlafenen Wachmännern vorbeizukommen. Nur um einen konnten wir nicht herumschleichen, sodass Munro ihn mit seinem Messer ausschalten musste. Wir fanden McKinnon wie angekündigt in seinem Labor vor. Er war schätzungsweise Ende fünfzig und mittelgroß, ein wenig hager, mit silbergrauem Spitzbart und klaren, blauen Augen, aus denen Intelligenz strahlte. Er trug einen weißen
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