Memoria
dass das neu für ihn war. «Ich kenne den Leiter der hiesigen Dienststelle. Ich werde ihn kontaktieren.» Er dachte einen Moment lang nach, dann fragte er: «War sie bei Ihnen an der Ostküste stationiert?»
Ich schüttelte den Kopf. «Nein. In Mexiko-Stadt.»
«Mexiko? Waren Sie auch dort?»
«Nein, ich war in Chicago.»
«Und wie sind Sie beide dann zusammengekommen?»
«Ich war mit einer gemeinsamen Task-Force verschiedener Behörden unten. Es ging um ein neues Drogenlabor, wo verdammt reines Meth gebraut wurde, das gerade in den Verkehr kam. Ich hatte die Spur über ein paar Gangster von den Latin Kings verfolgt, die sie beliefert haben.»
«Operation Sidewinder?», fragte Villaverde.
«Genau. Jedenfalls, Mish war bereits dort, sie operierte vom DEA -Hauptquartier in der Botschaft aus und griff die Haupt-Drahtzieher da an, wo es am meisten weh tat – beim Geld. Es hat nicht lange gedauert, bis sich unsere Wege kreuzten.»
«Okay. Wer war zu ihrer Zeit der dortige Attaché? Mit dem müssen wir reden.»
Ich runzelte die Stirn. «Hank Corliss.»
Auch Villaverde verzog das Gesicht. Offenbar war ihm der Name ein Begriff. «Corliss. Lieber Himmel.»
Ich nickte. «Ist er noch bei der DEA ?»
Er zuckte die Schultern. «Teufel, ja. Was sonst sollte er tun, nach dem, was er durchgemacht hat – wenn Sie verstehen, was ich meine?» Er schwieg kurz, wie um seine Achtung für den Mann zum Ausdruck zu bringen, dann fuhr er fort: «Er ist jetzt der Chef in L. A. Leitet die So-Cal-Task-Force.» Der Name hatte bei Villaverde offenbar eine Frage angestoßen, denn er sah mich nachdenklich an. «Denken Sie, es könnte eine Verbindung geben zwischen diesen Vorfällen und dem, was ihm widerfahren ist?»
Der Gedanke war mir auch schon gekommen, aber besonders plausibel erschien es mir nicht. Seitdem waren fast fünf Jahre vergangen – würde jemand so lange warten, ehe er eine zweite Welle der Verheerung entfesselte?
«Nach so langer Zeit? Und nachdem Michelle schon vor Jahren den Dienst quittiert hat? Das halte ich doch für sehr unwahrscheinlich. Außerdem war sie nicht Mitglied unserer Task-Force – sie hat undercover in ganz anderen Bereichen gearbeitet. Aber wie dem auch sei, jedenfalls müssen wir mit ihm reden.» Ich schwieg kurz, ehe ich hinzufügte: «Es wäre wohl besser, wenn die Anfrage von Ihnen käme. Corliss und ich … wir sind nicht gerade die besten Freunde.» Das war milde ausgedrückt.
Villaverde kicherte leise. «Verstehe.»
Er schwieg sekundenlang, um seine nächsten Worte abzuwägen.
«Hören Sie», sagte er schließlich, «das ist ja alles schön und gut, und vielleicht ergibt sich tatsächlich etwas daraus, aber … Wir kommen schon zurecht, okay? Sie haben im Augenblick andere Sorgen.»
Ich sah ihn fragend an.
Villaverde drehte sich um und deutete zu der Glaswand, die sein Büro vom Schreibtisch seiner Sekretärin trennte. «Der Junge.»
Ich blickte durch die Scheibe. Alex hatte sich etwas beruhigt und saß still auf einer schwarzen Ledercouch, den Blick auf den Teppich gesenkt. Neben ihm saßen zwei Frauen. Die eine war Villaverdes übertüchtige persönliche Assistentin Carla, der ich den Jungen zuerst anvertraut hatte. Später war eine jüngere, dunkelhaarige Agentin in weißem Hemd und anthrazitfarbenem Kostüm dazugekommen, die Jules Lowery hieß. Die Aufmerksamkeit der beiden war ganz auf den Jungen gerichtet. Sie plauderten mit ihm und versuchten, ihn aufzumuntern, während er lustlos aus einer Pappschachtel Chicken Nuggets und Pommes frites aß. Villaverde hatte bereits eine Kinderpsychologin angefordert, eine Frau, die schon früher mit dem FBI zusammengearbeitet hatte, aber bisher hatte man nur ihre Voicemail erreichen können und wartete auf den Rückruf.
«Hat er irgendwelche Angehörigen, bei denen er unterkommen kann? Er braucht jetzt jede Menge Liebe und Fürsorge», fügte Villaverde hinzu. «Darüber sollten Sie sich Gedanken machen.»
Er hatte natürlich recht. Ich war so darauf fixiert gewesen, die Hurensöhne in die Hände zu bekommen, die Michelle erschossen hatten, dass ich gar nicht wirklich an das andere Opfer dachte, das sie hinterlassen hatten.
«Ich weiß.»
«Und, was haben Sie jetzt mit ihm vor?»
Mir war nicht klar, warum er danach fragte. «Er ist mein Sohn. Was denken Sie? Er wird bei uns leben.»
«Okay, großartig, aber da werden Sie noch einigen Papierkrieg vor sich haben. Wahrscheinlich müssen Sie einen Bluttest machen lassen, um die
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