Memoria
engen Korridor entlang. Am Ende, bei der Küchentür, befand sich die nächste Stelle des Überfalls: überall auf dem Boden und an den Wänden Blut. Eine Flut von Bildern stürmte auf mich ein, Bilder, die mein Gehirn aufgrund von Michelles Schilderung produzierte. Ich sah vor mir, wie sie dem Eindringling das Küchenmesser in den Hals gestoßen hatte, und glich das Bild mit den Blutspritzern an den Wänden ab. Ich stellte mir vor, wie der Mann zusammengebrochen war – dort, wo sich auf dem Boden die große Blutlache befand – und wie die anderen ihn dann tot oder sterbend aus dem Haus geschafft hatten, wobei seine nachschleifenden Füße zwei Blutspuren auf den Boden malten.
Ich betrat die Küche. Hier war kaum etwas verändert. Ich sah Michelles Geist darin umhergehen, sah, wie sie ihre samstagmorgendliche Routine verrichtete. Ich bemerkte die offen stehende, halb ausgeräumte Spülmaschine, doch dann zog der Kühlschrank meinen Blick an.
Ich trat näher heran.
Jeder Quadratzentimeter der Tür war mit Fotografien, Zeichnungen und anderen persönlichen Erinnerungen bedeckt, wie eine große Bildmontage von Michelles Leben. Ich konnte nicht aufhören, sie zu betrachten, und dabei wurde meine Brust eng. Diese Bilder waren ein Erinnerungsschrein glücklicherer Tage, das Zeugnis einer Frau und ihres Sohnes und der guten Zeiten, die sie gemeinsam erlebt hatten – gute Zeiten, an denen ich keinen Anteil gehabt hatte, gute Zeiten, die Alex nie wieder mit seiner Mutter genießen würde.
Ich stand da und ließ die Bilder auf mich wirken. Sie zeigten Alex als Baby, Alex und Michelle in Parks und Schwimmbädern und am Strand, und von allen diesen Bildern strahlten mir fröhliche, lächelnde oder lachende Gesichter entgegen. Als ich Alex’ Zeichnungen betrachtete, schnürte es mir die Kehle zu. Es waren unbeholfene, farbenfrohe Bilder mit Strichmännchen, Bäumen und Fischen und krakeligen Buchstaben, der hinreißende Ausdruck einer Unschuld, die der Junge wohl für immer verloren hatte. Die ganze Zeit fühlte ich mich in die Szenen hineingezogen, wie durch einen Spiegeleffekt einer Digitalkamera, der mir endlose verlorene Möglichkeiten vorführte.
«Mir scheint, sie hatte ein schönes Leben.»
Villaverdes Worte rissen mich aus meinen Gedanken.
Ich nickte langsam. «Ja.»
Villaverde trat näher und betrachtete einen Moment lang schweigend die Erinnerungsfotos an der Kühlschranktür. Dann sagte er: «Die Spurensicherung ist hier fertig, also wenn Sie irgendwas mitnehmen wollen …»
Ich sah ihn an. Er zuckte die Achseln. Ich wandte mich wieder dem Kühlschrank zu, warf noch einen langen Blick auf die Bilder und nahm schließlich ein Foto ab, auf dem Michelle und Alex neben einer Sandburg an irgendeinem Strand posierten.
«Sehen wir uns die anderen Räume an», sagte ich zu Villaverde, während ich das Foto in die Brusttasche schob.
Der Rest des Hauses war mehr oder weniger unberührt. Während ich durch das Wohn- und das Schlafzimmer ging, blickten mir immer wieder gerahmte Fotos von Michelle und Alex entgegen, aber abgesehen davon, dass sie die Kälte in meinem Inneren verstärkten, schien nichts in einem der Zimmer ungewöhnlich oder so, als müsse es eingehender untersucht werden. Alex’ Zimmer stellte schon eher eine Herausforderung dar. Mir war klar, dass es hilfreich für ihn sein würde, ein paar seiner liebsten Dinge um sich zu haben, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen und was ich auswählen sollte, und diese Ratlosigkeit machte mich noch niedergeschlagener. Überall lag Spielzeug herum, Bücher und Kleidungsstücke, und die Wände waren ein buntes Mosaik aus Postern von Comicfiguren und Alex’ eigenen Bildern. Ich fand, es wäre ein guter Anfang, die mit Comicfiguren bedruckte Bettwäsche mitzunehmen und dazu die drei Plüschtiere, die auf dem Bett lagen. Ich rollte alles zusammen und nahm auch etwas Kleidung aus dem Schrank.
Der letzte Raum, den wir betraten, war der kleinste der drei. Hier hatte Michelle sich ein Arbeitszimmer eingerichtet. Es gab einen Schreibtisch aus dunklem Holz, gut bestückte Bücherregale und ein breites Sofa, auf dem ein paar Kissen mit Samtbezügen lagen. Auch hier fanden sich Fotorahmen zwischen den Büchern und sonstigen Erinnerungen an Michelles Leben. Ich stellte fest, dass sie neben den dicken Romanen und Reiseführern, von denen ich wusste, wie sehr sie sie mochte, auch reichlich New-Age-Literatur besessen hatte. Bücher über den menschlichen Geist,
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