Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Das war ja …«
»Ja?«
»Das war irgendwie so viel auf einmal. Ich hatte gerade herausgekriegt, dass Henrik schwul war, und jetzt wollte er mitten in der Nacht weg. Wo er doch immer so artig gewesen war. Es war schwer, das zu begreifen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, nickte Gunnar Barbarotti. »Und das mit Henriks Homosexualität, darüber wusste niemand Bescheid?«
»Nein.«
»Und du hast ihm nicht gesagt, dass du es wusstest?«
»Dazu bin ich nie gekommen. Außerdem hatte ich mir sein Handy ohne seine Erlaubnis geliehen, deshalb wollte ich lieber nichts sagen.«
»Ich verstehe. Aber er hat also einen Plan gehabt, der Henrik. Wann hat er dir den erzählt?«
»Abends. Erst ein paar Stunden, bevor wir ins Bett gegangen sind.«
»Kannst du mir genau wiedergeben, was er gesagt hat?«
»Das kriege ich nicht mehr richtig zusammen. Aber es war eigentlich nicht mehr, als dass er nachts ein paar Stunden weg sein wollte und dass ich mich darum nicht kümmern sollte. Ich habe ihn gefragt, warum, und er hat nur gesagt, dass er jemanden treffen will. Und dann … ja, dann habe ich nach dem Mädchen gefragt. Mehr war nicht.«
»Warum hast du nach einem Mädchen gefragt, wenn du wusstest, dass er gar nicht an Mädchen interessiert ist?«
»Keine Ahnung. Das ist mir nur so rausgerutscht. Er hatte ja diese Jenny in Uppsala erfunden, also wollte er wohl nicht, dass wir etwas erfuhren von … ja, ich nehme an, dass es sie gar nicht wirklich gegeben hat.«
»Nun gut. Hast du das irgendjemand anderem erzählt, deinem Vater oder deiner Mutter beispielsweise?«
»Natürlich habe ich das nicht. Und ich will nicht, dass sie erfahren, dass …«
»Dass dein Bruder homosexuell ist?«
»Ja. Ich meine, es ist ja wohl nicht so schlimm, mich stört es nicht, aber sie würden sich sicher ziemlich aufregen … oder traurig sein … jetzt erst recht, wo er verschwunden ist. Nein, ich möchte nicht, dass sie das erfahren. Deshalb habe ich ja auch geschwiegen, es war nicht nur, weil ich es versprochen habe.«
»Ja, klar. Und du hast über diesen Jens nichts weiter in Erfahrung gebracht?«
»Nein, wie sollte ich …«
»Gut. Dann kann ich dir berichten, dass es stimmt, er war es nicht, den Henrik in dieser Nacht hat treffen wollen.«
»Aber woher … woher können Sie das denn wissen?«
»Weil wir Jens überprüft haben. Er hat ein Alibi. Er befand sich in der Nacht zwischen dem zwanzigsten und dem einundzwanzigsten Dezember fast tausend Kilometer von Kymlinge entfernt.«
Kristoffer Grundt klappte der Unterkiefer runter. Ganz buchstäblich. Er saß mit offenem Mund da und starrte Inspektor Barbarotti an.
»Dann habt ihr gewusst …? Sie haben gewusst, dass …?«
Gunnar Barbarotti holte sein Handy aus der Brusttasche seiner Jacke. »Darf ich dir einen guten Rat geben, junger Mann«, sagte er. »Wenn du irgendwann in deinem Leben planst, eine kriminelle Tat zu begehen und du willst sicher sein, dass sie dich schnappen, noch bevor du es tust, dann sieh zu, das hier zu benutzen.«
»Was?«, fragte Kristoffer Grundt.
»Sicher, wir hören unsere ehrenwerten Mitbürger nicht direkt ab«, fuhr Barbarotti fort. »Aber wir wissen, wen sie anrufen. Wann sie es tun, wie oft sie es tun, und wo sie sich bei jedem einzelnen Gespräch befinden. Wenn es beispielsweise zwei junge Männer in Uppsala gibt, die in einer Zeitspanne von zwei Wochen einander mehr als neunzig SMS schicken … ja, dann ziehen wir daraus unsere Schlussfolgerungen.«
»Ich verstehe«, sagte Kristoffer Grundt.
»Gut«, sagte Inspektor Barbarotti.
Und verflucht noch mal, dennoch kommen wir nicht weiter, dachte er, als er sich eine Stunde später auf einen Fensterplatz im freundlicherweise halbleeren Flugzeug nach Arlanda fallen ließ, das außerdem, allen Anzeichen nach, die Absicht hegte, sich planmäßig in die Luft zu erheben. Wir treten auf der Stelle. Wir sind … wir sind schlechter als die Inlandsflüge.
Was fast als das Ironischste angesehen werden musste – vor dem Hintergrund dessen, was er dem jungen Herrn Grundt gegen Ende des Gesprächs im Café Charm erklärt hatte -, war natürlich die Tatsache, dass Henrik sein Handy nicht benutzt hatte. Er hatte der Person, die er zu besuchen beabsichtigte, keine SMS geschickt und ihr mitgeteilt, »komme in einer halben Stunde«, und während Inspektor Barbarotti nun dasaß und durch das winzig kleine Kabinenfenster starrte und dem Lärm der Enteisungsspritzen
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