Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
er dunkle Ränder unter den Augen, obwohl er erst vierzehn Jahre alt war, und eine Hautfarbe wie ein schmutziges Bettlaken.
Aber so sehen wahrscheinlich die meisten in diesem Land zu dieser gotterbärmlichen Jahreszeit aus?, überlegte Barbarotti. Wenn man es genau nimmt.
»Nein«, antwortete er. »Wir wissen immer noch nicht, was mit deinem Bruder passiert ist. Erzähl jetzt einfach, was du bisher verschwiegen hast.«
Der Junge warf ihm einen schnellen, scheuen Blick zu.
»Ja, da war eine Sache …«, zögerte er. »Ich muss mich entschuldigen, dass ich das nicht früher erzählt habe, aber ich habe ihm versprochen …«
»Henrik?«
»Ja.«
»Du hast ihm etwas versprochen? Okay, red weiter. Was hast du ihm versprochen?«
»Ich habe Henrik versprochen, nichts zu sagen. Aber jetzt … ja, jetzt ist mir klar, dass ich wohl …«
Er verstummte. Gunnar Barbarotti beschloss, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen. »Du bist nicht länger an irgendein Versprechen gebunden, Kristoffer«, sagte er so freundlich er konnte. »Wenn Henrik könnte, würde er dich von dem Versprechen befreien. Wir müssen alles tun, was wir können, um ihn zurückzuholen, der Meinung bist du doch sicher auch?«
»Glauben Sie … glauben Sie, dass er noch lebt?«
Es war ein leichter Hauch von Hoffnung in der Stimme zu vernehmen, aber nicht besonders viel. Er sieht die Sache so wie ich, dachte Gunnar Barbarotti. Er ist ja nicht dumm.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Weder du noch ich können das wissen. Aber wir können nur hoffen, und wir wollen unser Bestes tun, um herauszubekommen, was passiert ist. Nicht wahr?«
Kristoffer Grundt nickte. »Ja, es war nämlich so, dass er … dass er in der Nacht abgehauen ist. Ich meine, er hatte geplant, wegzugehen.«
»Aha«, sagte Barbarotti. »Erzähl weiter.«
»Eigentlich ist es nur das. Er hat mir erzählt, dass er in der Nacht weggehen wollte, um jemanden zu treffen, und er bat mich, niemandem davon zu erzählen.«
»Und dann ist er weggegangen?«
»Ja, das muss er wohl. Aber ich weiß es nicht genau, weil ich eingeschlafen bin.«
»Du hast geschlafen, als er das Haus verließ?«
»Ja.«
»Zu wem wollte er?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Nein. Er hat gesagt, er wollte einen alten Kumpel treffen, und da habe ich gefragt, ob es ein Mädchen ist.«
»Ja, und?«
»Und da hat er ja gesagt.«
»Ein Mädchen?«
»Ja.«
»Hm«, sagte Gunnar Barbarotti und verwandelte seinen doppelten Espresso in einen einfachen. Kristoffer Grundt trank ein wenig Cola. Es vergingen einige Sekunden, der Junge schaute auf die Tischplatte, und Barbarotti hatte eine kurze Vision, wie man sich wohl als katholischer Priester fühlt, der die Beichte abnimmt.
»Da ist noch etwas, oder?«, fragte er. »Du hast mir noch nicht alles gesagt?«
Kristoffer Grundt nickte.
»Es gibt noch was«, murmelte er.
»Du glaubst, dein Bruder hat gelogen?«
Kristoffer Grundt zuckte zusammen. »Wie … wie können Sie das wissen?«
Gunnar Barbarotti lehnte sich zurück. »Ich mache das schon seit einigen Jahren. Da lernt man das eine oder andere. Also, was hast du noch zu sagen?«
»Ich glaube nicht, dass er sich mit einem Mädchen treffen wollte.«
»Aha. Und warum nicht?«
»Weil … weil Henrik schwul ist.«
»Schwul? Wie kommst du darauf?«
»Weil ich mir sein Handy geborgt habe, und da habe ich es gesehen.«
»Kann man auf einem Handy sehen, dass jemand homosexuell ist? Jetzt machst du aber Witze!«
»Nein, das kann man natürlich nicht.« Kristoffer Grundt musste gegen seinen Willen lachen. »Ich habe mir Henriks Handy geliehen, um eine SMS zu schicken. Und da habe ich zufällig eine Nachricht gelesen, die für ihn gekommen ist. Und das, was in dieser Nachricht stand, war ziemlich …«
»Eindeutig?«
»Ja, eindeutig. Es war von einem Typen, der … ja, das habe ich im Adressbuch nachgeguckt … von einem Typen, der Jens hieß. Deshalb glaube ich nicht, dass Henrik sich mit einem Mädchen treffen wollte.«
»Und was glaubst du, wen er wirklich treffen wollte?«
»Ich weiß es nicht.«
Gunnar Barbarotti hatte keine andere Antwort erwartet, spürte aber dennoch einen Stich von Enttäuschung darüber, dass Kristoffer in dieser Hinsicht keine Überraschung bieten konnte. »Und wenn du raten solltest?«
Der Junge überlegte einen Moment. »Ich habe tatsächlich keine Ahnung. Vielleicht war es ja dieser Jens, der zufällig in Kymlinge war … aber es schien eigentlich … nein,
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