Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Schlüsselbein baumelt? Zwei Tüten, waren es nicht zwei Tüten? Was will er ihr in diesen dunklen Stunden lange vor der Morgendämmerung sagen?
Sie kommt auf die Beine, lässt das Rollo hochschnappen und schaut aus dem Fenster. Draußen ist es rabenschwarz, aber es fällt Schnee, schwer und dicht.
Kristoffer?, denkt sie. Du nicht auch noch.
Kristina Hermansson liest. Fern von allen Sorgen der Welt, in einer anderen, die sie nicht kennt. Es ist der erste Dezember, und es fällt Schnee. Es hat die ganze Nacht geschneit, leise, und es schneit noch weit in den Vormittag hinein. Der Apfelbaum vor ihrem Fenster bekommt ganz neue Formen und Strukturen, die Johannisbeerbüsche sind große, struppige Moschusochsen.
Jakob ist in die Fernsehanstalt nach Värtahamn gefahren, Kelvin ist bei der Tagesmutter. Sie wartet darauf, dass Kristoffer von sich hören lässt, sie wartet darauf, dass ihr Leben endgültig zerbricht, aber in der Zwischenzeit liest sie in Walters Buch.
In den Schatten meiner Hände wohnte eine Sehnsucht, schreibt er. In einer fünfzehnjährigen Feigheit verbarg sich eine Hoffnung. Wo ist sie hin?
Sie versteht nicht immer, was er schreibt, ihr Bruder, aber sie findet es schön. Von der anderen Seite des Grabs aus spricht er zu ihr, hinter den Worten hört sie seine Stimme. Sie ist erst bis Seite 40 von 651 gekommen, dennoch hat sie das Gefühl, als wäre er bei ihr im Zimmer. Als könne sie mit ihm sprechen, ihm Fragen stellen, die während der Lektüre in ihrem Kopf auftauchen.
Was meinst du damit, Walter, mein Bruder? Was ist das für eine Sehnsucht? Was für eine Art von Hoffnung, die du auf dem Weg verloren hast? Er antwortet nicht, aber vielleicht hat er die Antwort weiter hinten im Buch versteckt.
Ich wurde geboren als ein Verlierer, habe jedoch diese Tatsache mein ganzes Leben lang im Vergessen vergraben, schreibt er auf Seite 42. Doch wenn Wissen und Wahrheit ihre hässlichen Köpfe zeigen, erkenne ich sie sofort wieder. Man kann nicht aus seiner Haut heraus.
Trotzdem ist sie sich nicht sicher, ob Walter über sich selbst spricht. Vielleicht ist es ja eine andere Person. Das Buch ist in Ich-Form geschrieben, zumindest zu Anfang. Die Hauptperson heißt Michail Barin, eine merkwürdige, nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit herumwandernde Kreatur, wie es scheint. Nach allem zu urteilen ein Russe, mal taucht er in der Gegenwart auf, mal weit zurück im 19. Jahrhundert, vielleicht ist er gar kein richtiger Mensch, wenn man es genau betrachtet. Vielleicht ist er nur eine Idee.
Aber sie liest fasziniert, und Walters Stimme ist mit jeder Seite, die sie umblättert, deutlicher zu hören.
Wenn ich ins Gefängnis komme, denkt sie, dann wird es Walters Buch sein, das mich am Leben erhalten und beschäftigen wird.
Aber vielleicht zerbricht das Leben ja gar nicht. Vielleicht ist das alles gar nicht nötig. Heute ist Mittwoch. Der Flug nach Bangkok und Thailand geht am Sonntag, es sind nur noch vier Tage. Vier lächerliche Tage, und wenn dieser kurze Zeitabschnitt ohne Zwischenfälle verrinnt, dann kann sie die Dinge in die eigenen Hände nehmen. Wenn sie endlich zusammen mit ihrem Mann im Flugzeug sitzt, wird sie wissen, wie es weitergehen muss. Dann sind alle Hindernisse überstanden, und alles wird sich so auflösen, wie sie es geplant hat.
Aber sie ziehen sich hin, diese Tage. Kristoffer wird anrufen, etwas wird geschehen, das weiß sie, sobald sie ihren Blick und ihre Gedanken von Walters Buch hebt – aber momentan, genau in diesem Augenblick, ist es nur der Schnee, der fällt.
Kristoffer Grundt hat die Lösung in der Hand.
Es ist Mittwochabend. Der erste Dezember, ein Tag, an dem der Schneefall von morgens bis abends immer dichter wurde. Der Bus hinaus nach Bergsbrunna brauchte eine halbe Stunde länger als üblich und war mehrere Male kurz davor, in den Graben zu rutschen. Marktleiter Luthman hatte während der Nachmittagspause erzählt, dass im ganzen Land Chaos herrsche, ganz besonders in Skåne, wo fast keine einzige Straße mehr befahrbar sei, und in Dalsland seien mehr als fünftausend Häuser von der Umwelt abgeschnitten. Wie es an der Küste nach Roslagen hin aussah, wagt sich keiner vorzustellen. Seit Menschengedenken hat es nicht mehr so viel geschneit, und das jetzt seit sechzehn Stunden.
Doch das alles bekümmert Kristoffer Grundt nicht, denn er steht im Keller des Hauses der Cousine seines Vaters in Bergsbrunna und hält die Lösung in der Hand.
Sie ist glatt und
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