Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
unten anzufangen, meinte Leif. Damit er wusste, worauf er sich einließ.
Aber vielleicht hatte er gar keine derartigen Pläne?
Kristoffer musste zugeben, dass es zumindest momentan keine direkten Pläne in dieser Richtung gab, und dann fragte sein Vater, wann er denn nach Hause kommen wolle.
»Samstag«, erklärte Kristoffer. »Ich nehme irgendwann vormittags den Zug. Ich ruf noch an und sag dir, wann ich komme.«
»Du hast noch genug Geld für die Fahrkarte?«
»Ja.«
»Und auf deinem Handy?«
»Es reicht.«
»Gut. Wenn du mir Bescheid gibst, dann hole ich dich am Bahnhof ab. Also dann bis Samstagnachmittag, ja?«
»Samstagnachmittag«, bestätigte Kristoffer.
»Grüß Berit und Ingegerd von mir.«
Das versprach Kristoffer, und dann legte er auf.
Die Wirklichkeit?, dachte er. Was ist eigentlich die Wirklichkeit? Das war die erste Frage, die sich nach dem Telefongespräch in seinem Kopf formte. Aus welchem Grund auch immer. Er versuchte aus dem beschlagenen Busfenster zu schauen. Der Schneefall hatte im Laufe der Nacht offenbar aufgehört, und die Schneepflüge hatten meterhohe Wände zusammengeschoben. Er hatte das Gefühl, als hätte der viele Schnee irgendwie mit der ganzen Geschichte zu tun. Mit dem Plan und der Lösung. Diese weiße Welt war eine andere Wirklichkeit, und es war eine andere Wirklichkeit, in der er seine Tat ausüben würde. Später, wenn es vorbei war, würden die Dinge wieder normal werden. Wieder ihre üblichen Formen annehmen. Endlich. Nachdem er seinen Bruder gerächt hatte, würde es wieder möglich sein, nach vorn zu schauen. Er hatte fast ein Jahr in diesem merkwürdigen Zustand gelebt, bei dem alles nur aus Unklarheiten und Fragezeichen zu bestehen schien. Ein zäher Wachtraum, der einen auf sonderbare Art und Weise gefangen hielt. Er hatte den Kontakt zu seinem alten Leben verloren, das zu behaupten war nicht übertrieben. Er schwänzte die Schule, nichts war mehr wichtig, die Freunde, die er in der Siebten und Achten gehabt hatte, hatte er verloren, und seine Familie lag in Scherben. Er rauchte wie ein Schlot und betrank sich mindestens einmal die Woche … aber jetzt sollte das alles, diese ganze Trostlosigkeit, ein Ende haben. Ein Ende und eine Grenze, das war ihm jetzt klar. Indem er den Mörder seines Bruders tötete, würde er an diese Grenze gelangen. Es war … es war, dachte Kristoffer Grundt, als gäbe es eine Hand, die den Lauf der Dinge lenkte … oder einen Regisseur, einen Macher, der dafür sorgte, dass das, was geschehen sollte, auch wirklich durchgeführt wurde.
Der dafür sorgte, dass die Oma diese Worte bei Walters Beerdigung sagte beispielsweise. Und zwar genau ihm, Kristoffer … und der ihn dann ausgerechnet diesen albernen Fernsehfilm bis zum Schluss ansehen ließ, nur damit er Olle Rimborgs Namen entdeckte … und dass er den Mut fand, seine Tante anzurufen.
Und dass sein Vater auf die Idee kam, ihn für dieses Praktikum nach Uppsala zu schicken.
Während er das überlegte, während die Gedanken diesen ausgetretenen Pfaden folgten, spürte er plötzlich einen Schwindel. Er saß zwar in einem Bus, vollgestopft mit unbekannten morgenmüden, schlecht gelaunten Menschen, der sich durch eine fremde, weiße Winterlandschaft durchkämpfte – aber gleichzeitig, gleichzeitig war er Teil von etwas anderem. Einer ganz anderen Geschichte, die so viel größer und so viel wichtiger war. Einer langen Kette von Ereignissen, bei denen das eine Glied zum nächsten führte und bei dem es unmöglich war, stehen zu bleiben oder zurückzugehen, wenn man sich einmal entschlossen hatte, welchen Schritt man tun wollte. Denn es war nicht möglich, eventuelle Fehler zu korrigieren oder einen neuen Versuch zu wagen – und plötzlich begriff er, während der Bus sich an diesem Wintermorgen Anfang Dezember langsam durch die eingeschrumpfte Kungsgatan manövrierte, dass genau so das Leben aussah. Das hier war das Modell schlechthin. Das, was geschieht, geschieht, und es ging nur darum zu verstehen, was man zu tun hatte.
Und es zu akzeptieren.
Und als er sich schließlich, mehr als zwanzig Minuten verspätet, an der Haltestelle aus dem Bus zwängte und zu dem ersten Einkaufszentrum hinüberstapfte, konnte er zum ersten Mal seit langem Henriks Stimme in sich hören.
Das ist gut, mein Bruder, sagte dieser, und er klang gleichzeitig etwas entfernt und ungewöhnlich ernst. Sehr ernst.
Das ist gut, du bist dabei, eine ganze Menge zu lernen, Kristoffer.
»Ich bin aus einem
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