Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
fast augenblicklich richtete sie sich wieder auf. »Verzeih mir, Kristoffer, ich benehme mich erbärmlich.«
»Nein«, widersprach Kristoffer leise. »Du benimmst dich nicht erbärmlich.«
Er wusste nicht, ob er das ernst meinte. Aber plötzlich sah er ganz deutlich vor sich ein erschreckend klares Bild: Kristina und Henrik, die heftig in einem fremden Hotelbett miteinander vögeln, und dann wird die Tür aufgerissen, und da steht Jakob, es ist genau wie in einem Film, in dem das Liebespaar vom eifersüchtigen, wahnsinnigen Ehemann entlarvt wird, der unerwartet nach Hause kommt.
»Wie?«, fragte er. »Wie hat er Henrik getötet?«
Sie sah ihn wieder mit diesem prüfenden Blick an. Es vergingen drei Sekunden.
»Mit seinen bloßen Händen, Kristoffer. Mit seinen bloßen Händen.«
Kristoffer starrte sie an. Fühlte, wie eine Welle von Übelkeit in ihm aufstieg. »Verdammte Scheiße«, sagte er.
»Ja«, nickte Kristina. »Ich würde mein Leben dafür geben, wenn ich alles ungeschehen machen könnte. Ich hoffe, du verstehst das, Kristoffer. Wenn ich mein Leben mit Henriks tauschen könnte, ich würde es machen, ohne eine Sekunde zu zögern. Aber es ist ein Gefühl, als ob … als ob ich dazu verdammt wäre zu leben. Ich weiß nicht, ob du das verstehst?«
»Warum bist du dann immer noch mit ihm zusammen? Mit Jakob … ich meine …«
»Weil er mich dazu zwingt.«
»Er zwingt dich?«
»Ja.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er hat Henrik getötet, aber ich bin diejenige, die die Schuld trägt. Wenn man seine Frau mit einem anderen Mann im Bett findet, hat man ein gewisses Recht … ja, den anderen Mann zu töten. Seine Ehre zu verteidigen, es ist ein uraltes Recht, in gewissen Kulturen nicht einmal strafbar.«
»Ehrenmord?«
Sie nickte. »Etwas in der Art. Und dass ich es mit meinem eigenen Neffen getrieben habe … nein, wenn ich meinen Mann verlasse, dann verrät er mich. Er weiß, dass seine Schuld geringer ist als meine. Solange er will, hat er mich in der Hand.«
»Aber du willst eigentlich …?« Unfreiwillig warf er einen Blick auf ihren Bauch. Fühlte sich verlegen und verlor den Faden.
»Ich hasse ihn, Kristoffer. Jakob ist ein Ungeheuer.«
Er wartete.
»Ein berechnendes Ungeheuer, ich habe schon vorher gewusst, dass da etwas nicht stimmt. Unsere Ehe war im letzten Jahr auf dem besten Weg, kaputt zu gehen, aber jetzt … aber jetzt …«
Sie verstummte. Sah ihn wieder mit ihren unheimlichen, nackten Augen an. Einige Sekunden verstrichen.
»Warum habt ihr das getan?«, fragte Kristoffer. »Du und Henrik.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war wie ein Spiel. Ein verbotenes Spiel … wir haben die Grenze überschritten.«
»Die Grenze. Ach so.«
»Entschuldige. Aber manchmal überschreitet man in seinem Leben Grenzen, von denen man weiß, dass man sie nicht überschreiten dürfte. Manchmal geht es gut, manchmal wird man bestraft. Das haben wir nicht gewollt, aber es nützt natürlich nichts, hier zu sitzen und sich rechtfertigen zu wollen. Es fing damit an, dass Henrik mir etwas erzählt hat.«
»Ja?«
»Nein, das kann ich nicht sagen.«
Ein Geistesblitz durchfuhr Kristoffer. »Hat er dir erzählt, dass er homosexuell ist?«
Erstaunt hob sie die Augenbrauen.
»Du hast es gewusst?«
»Nein. Nicht direkt. Aber ich habe gedacht, dass es so sein könnte.«
»Ach so. Ja, jedenfalls hat Henrik es mir erzählt, und ich habe ihm nicht geglaubt. Erinnerst du dich, dass wir an dem Abend einiges getrunken haben?«
»An dem ersten?«
»Ja, an dem Abend vor der Feier. Das entschuldigt nichts, aber ich war ein wenig betrunken, und … ja, ich hatte die Idee, Henrik beweisen zu wollen, dass er sich irrte. Dass er zumindest auch auf Frauen scharf sein konnte … nein, verzeih mir, Kristoffer, ich habe schon zu viel gesagt. Das muss reichen.«
Kristoffer nickte. Sie hatte recht. Das genügte, er fühlte, dass er nicht das Bedürfnis hatte, mehr zu erfahren.
Und plötzlich, während sie wieder schweigend dasaßen und einander nur ansahen, fuhren ihm zwei Gedanken durch seinen erschöpften Kopf.
Ich verstehe ihn, lautete der erste. Ich verstehe dich, mein Bruder Henrik.
Der andere Gedanke war schwärzer als jede Trauer.
Und ich verstehe dich auch, Jakob Willnius. Doch das nützt nichts, du musst sterben.
Du musst sterben, wiederholte es sich leise in seinem Kopf.
Dann war es lange Zeit vollkommen leer und still, und schließlich spürte er, dass er sich wahnsinnig nach einer Zigarette sehnte.
Aber
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