Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
dazusitzen und vor Kristinas Augen zu rauchen, erschien aus guten Gründen unmöglich. Außerdem war hier im Restaurant wahrscheinlich Rauchverbot wie in allen anderen.
»Wollen wir gehen?«, fragte er. »Ich möchte nichts essen.«
Sie sah ihn erstaunt an.
»Kristoffer …?«
»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte er, und er spürte, dass plötzlich ein erwachsener Mann aus seinem Mund sprach. »Ich verspreche dir, niemandem zu verraten, was du mir gesagt hast. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Sie versuchte etwas zu sagen, aber er kam ihr zuvor. Offenbar musste er die Zeit nutzen, solange die Erwachsenenstimme in ihm war. »Ich muss wieder zurück nach Uppsala. Darf ich dich anrufen, wenn ich über alles nachgedacht habe?«
»Was? Ja, natürlich, Kristoffer, du kannst mich jederzeit anrufen. Natürlich kannst du das.«
»Gut. Ich … ich muss erst mal darüber nachdenken, wie gesagt.«
»Das kann ich verstehen.«
Dann verließen sie Il Forno und gingen hinaus in die Novemberdunkelheit. Keiner von beiden hatte das Essen angerührt. Keiner von beiden sagte ein einziges Wort auf dem Weg zurück zum Hauptbahnhof.
»Nein, sie ist nicht zu Hause«, sagte Jakob Willnius. »Sie wollte jemanden in der Stadt treffen. Wird wohl in einer Stunde oder so wieder auftauchen, kann ich ihr etwas ausrichten?«
»Ich bin nur ein Kollege von ihr. Nichts Wichtiges. Ich rufe wieder an.«
Das Gespräch wurde unterbrochen. Er schaute auf die Nummernanzeige. Unknown. Wer’s glaubt, dachte Jakob Willnius.
Ein Kollege?
Kristina hatte seit mehr als einem Jahr nicht mehr gearbeitet.
Und wenn es etwas gab, womit er sich brüsten konnte, dann war es sein außergewöhnlich gutes Gedächtnis für Stimmen.
Er löschte das Licht und starrte auf die schwarzen, knorrigen Obstbaumsilhouetten vor dem Fenster. Fühlte, wie sich etwas in ihm verhärtete.
Gunnar Barbarotti blieb eine Weile mit dem Telefonhörer in der Hand sitzen und schaute ins Dunkel.
Ich hätte überhaupt nicht mit ihm sprechen sollen, dachte er. Das war dumm von mir.
V
Dezember
37
Ebba Hermansson Grundt träumt.
Es ist früh am Morgen, lange vor der Morgendämmerung, es ist der erste Dezember, und vor ihrem Fenster schneit es reichlich – aber davon weiß sie nichts, denn das Rollo ist sorgsam heruntergezogen, und die Uhrzeit interessiert sie nicht. Sie liegt in ihrem Bett im vollkommen weißen Zimmer im Pflegeheim, und sie träumt von ihrem Sohn.
Er baumelt in ihrem Körper, er ist zerstückelt und in zwei grünweiße Konsumplastiktüten eingepackt, hängt an ihrem Schlüsselbein und schaukelt wie die schweren, rostigen Klöppel einer vergessenen Kirchenglocke hin und her. Man träumt alles Mögliche, und das kann einem nicht zur Last gelegt werden, aber an diesem Morgen gibt es etwas, das nicht stimmt. Ein merkwürdiger Zug von Unruhe durchfährt ihren schlafenden Körper, ein eisiger Windzug lässt ihre Haut erzittern, sie tastet mit den Händen über Brust und Bauch, sie ist es so gewohnt, ihren Sohn auf diese Art die Nächte hindurch zu tragen. Monat für Monat hat sie das getan. Aber an diesem Morgen stimmt etwas nicht mit Henrik, etwas ist anders, fremd.
Das ist nicht Henrik. Das ist Kristoffer. Er, ihr jüngerer Sohn, ist es, der sich an diesem Morgen in ihr Inneres begeben hat, was hat das zu bedeuten? Innerhalb weniger Sekunden ist sie hellwach. Sie wirft die Beine über die Bettkante und setzt sich auf, die Füße auf den kalten Boden. Was soll das? Warum hat Kristoffer Henriks Platz eingenommen?
Das muss etwas bedeuten, denn Träume sind Schlüssel. Immer ist es so, es geht nur darum, das dazu passende Schloss zu finden.
Es aufzuschließen oder abzuschließen. Am liebsten würde Ebba Hermansson Grundt es abschließen, daran hat sie den ganzen Sommer und den ganzen Herbst über hartnäckig gearbeitet. Alles beiseiteschieben, nur diesen kleinen innersten Raum erhalten, in dem die Zeit nicht existiert, der jedoch das Allerwichtigste beinhaltet. Vergangene Sommer, ein Segelboot, ein blaues Dreirad, eine Schramme am Knie, die versorgt wird, kleine, klebrige Kinderfinger, die ihr Haar umklammern, und seine schönen Augen.
Dieser Raum, den zu schließen die Therapeuten so sehr bemüht sind, den sie dagegen jeden Abend mit behutsamer, sicherer Hand öffnet.
Aber Kristoffer? Wie ist der da hineingekommen? Wer hat ihn über die Schwelle gelassen, warum ist er derjenige, der jetzt zerstückelt in einer Plastiktüte an ihrem
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