Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
die viele Stunden in der Zukunft liegen konnten – oder sogar Tage, die aber sinnvollerweise bereits im Vorfeld erledigt werden sollten.
Will er mich wirklich dabei haben?, fragte sie sich. Oder tut er nur so? Der Höflichkeit halber. Familienpolitische Korrektheit?
Sie konnte es nicht sagen.
»Nein«, erklärte sie dann. »Ich denke, wir bleiben noch bis morgen.«
»Ist es die Sache mit Walter, die dich zurückhält?«
»Unter anderem. Ich fände es gemein, einfach so zu verschwinden. Wenn er nicht wieder auftaucht, dann braucht Mama jemanden … ja, nicht nur Ebba … mit dem sie reden kann.«
Was für eine unglaublich bequeme Ausrede, dachte sie. Das heißt wirklich, seine niederen Motive veredeln. Aber er schluckte es natürlich.
»In Ordnung«, sagte er. »Ich verstehe. Aber wie wollt ihr denn zurückkommen, wenn der gute Walter nicht wieder auftaucht?«
»Es gibt die Eisenbahn«, sagte Kristina. »Aber ich habe erst einmal einfach das Gefühl, es wäre nicht in Ordnung, abzufahren, wenn sich herausstellt, dass Walter tatsächlich verschwunden ist. Ich meine, dann muss doch etwas passiert sein. Er kann das doch nicht geplant haben.«
Sie löste Kelvin aus seinem Kindersitz. Jakob stieg aus dem Auto und ging zur Beifahrerseite. »Nein, du brauchst nicht mit hochzukommen«, sagte Kristina. »Ich nehme Kelvin auf den Arm und die Tasche in die andere Hand. Das geht schon.«
»Und der Kindersitz?«, fragte Jakob. »Wenn du mit Walter fährst, dann brauchst du ihn doch …?«
»Dann können wir auf der Rückbank sitzen. Und ich habe absolut keine Lust, ihn im Zug mitzuschleppen.«
Sie stieg aus und nahm Kelvin auf den Arm. Der Junge wachte auf und betrachtete seine Eltern mit seinem üblichen, wehmütigen Blick. Dann legte er den Kopf auf Kristinas Schulter und schlief wieder ein. Jakob strich ihm vorsichtig mit dem Handrücken über die Wange, während er abwechselnd das Kind und seine Frau ansah.
»Kristina«, sagte er. »Ich liebe dich. Vergiss das nicht. Ich fand es so schön, als du gestern nach Hause gekommen bist.«
Sie lächelte kurz voller Schuldbewusstsein. »Das fand ich auch. Und ich liebe dich auch, Jakob. Verzeih mir, wenn ich es dir nicht so deutlich zeigen kann.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »So, und jetzt los mit dir. Wir telefonieren morgen. Viel Glück mit deinem Amerikaner, aber fahr vorsichtig.«
»Ich verspreche es«, sagte Jakob Willnius, streichelte flüchtig mit den Fingern ihre Wange in der gleichen Art, wie er kurz zuvor die seines Sohnes berührt hatte. »Ein Glück, dass es aufgehört hat zu schneien, das meiste haben sie wahrscheinlich räumen können.«
Dann stieg er ins Auto und fuhr davon.
Als sie ins Zimmer kam, war es zwanzig nach zwölf. Sie legte Kelvin ins Zusatzbett im Alkoven, ohne dass er aufwachte, zog sich aus und ging duschen.
Was tue ich eigentlich?, dachte sie. Was treibt mich dazu? Sollte... sollte nicht Jakobs Liebe genügen, jetzt spüle ich seine letzte Berührung fort und bereite mich auf einen anderen vor.
Es ist eine Schande, dafür gibt es kein anderes Wort.
Es waren sicher berechtigte Gedanken, aber gleichzeitig wusste sie, dass alles nur ein rhetorisches Spiel war, ganz gleich, welche Anklagen sie gegen sich selbst richtete oder welche Urteile sie aussprach.
Es geschieht in solchen Momenten, dachte sie, wenn die Leute solche Entscheidungen treffen – dann ruinieren sie ihr Leben.
Und das Merkwürdige daran ist, dass es zutiefst menschlich ist.
Dennoch handelte es sich doch nur – in gewisser Weise – darum, Henrik zu helfen, seine Sexualität zu finden. Das hatte den Stein ins Rollen gebracht. Auf jeden Fall wollte sie sich das einreden, und wenn … wenn alles gutginge, und das konnte es ja, das sollte es eigentlich … dann konnten sie, Neffe und Tante, irgendwann in der Zukunft vielleicht einmal darüber lachen und daran als eine schöne Erinnerung zurückdenken. Ein süßes Geheimnis, das sie miteinander teilten und für den Rest ihres Lebens eingekapselt im Herzen tragen konnten. Nur in kurzen, auserwählten Momenten würden sie es herausholen und betrachten.
Das habe ich im letzten Jahr in drei Romanen und fünf Illustrierten gelesen, dachte sie, trat aus der Dusche und begann sich mit dem knallroten Badelaken des Hotels abzutrocknen.
Dann betrachtete sie ihren nackten Körper im Spiegel in der gleichen neutralen, freundlich akzeptierenden Art, wie sie es vor kurzem in ihrem eigenen Badezimmer in
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